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Der fremde Ferdinand

Die Brüder Grimm – das sind, so könnte man meinen, Jacob und Wilhelm, bekannt als Märchen- und Sagensammler und Germanisten. Dass aus der kinderreichen Familie ihrer Eltern neben ihnen noch eine Schwester und drei Brüder das Erwachsenenalter erreichten, wird dabei oft ausgeblendet, und dass ihr jüngerer Bruder Ferdinand ebenfalls Märchen und Sagen sammelte und unter verschiedenen Pseudonymen veröffentlichte, ist so gut wie vergessen.

Aufgrund seines geringen Bekanntheitsgrades und der vergleichsweise spärlichen Informationen über sein Leben und Werk ist er für Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz Der fremde Ferdinand. In ihrem von Hagen Verleger auch äußerlich ausgesprochen schön gestalteten Buch geben sie nicht nur unterschiedliche Märchen und Sagen Ferdinand Grimms und seine boshafte Schlüsselerzählung Tante Henriette neu heraus, sondern legen neben Erläuterungen zu den einzelnen Texten auch eine biographische Skizze vor.

Ferdinand Grimm galt zu Lebzeiten als schwarzes Schaf der Familie. Nach dem frühen Tod des Vaters in der Schule nicht so brillant wie seine ältesten Brüder, musste er, unter anderem auch aus finanziellen Gründen, auf ein Studium verzichten und fasste beruflich nie dauerhaft Fuß, so dass er in vielen Phasen seines Lebens auf finanzielle Unterstützung durch seine Geschwister angewiesen war. Ungetrübt war sein Verhältnis zu diesen und insbesondere zu seinen berühmten älteren Brüdern allerdings nicht – möglicherweise auch (wie Boehncke und Sarkowicz aus verhüllenden Andeutungen im Briefwechsel der Familie untereinander und mit Freunden und Bekannten rekonstruieren), weil Ferdinand vermutlich homosexuell war.

Wurde er so selbst zum Opfer der Vorurteile seiner Zeit, teilte er sie in anderer Hinsicht, etwa, was seine eher negative Sicht auf Juden betrifft. Als Märchen- und Sagensammler allerdings scheint er offener und kontaktfreudiger als seine Brüder gewesen zu sein. Abgesehen davon, dass er älteren Textsammlungen und auch Chroniken Märchen- und Sagenhaftes entnahm, kam er, unter anderem auch auf langen Reisen zu Fuß, mit einer heterogeneren Schar von Erzählerinnen und Erzählern in Kontakt. So verwundert es nicht, dass neben vollständigen Geschichten in seinen Sammlungen teilweise auch nur kleine Sagenversatzstücke oder aber ganz andere Textgattungen wie Abzählreime mit auftauchen. So stößt man auf viel Unerwartetes und Unbekanntes. Wer ahnt z. B., dass in den Schweizer Bergen angeblich eine alte Frau umgeht, die ihre Nase zu einem Greifrüssel verlängern kann, mit dem sie ahnungslose Menschen erbeutet, oder dass nicht nur Karl der Große, sondern auch sein sächsischer Gegner Widukind in einem Berg seiner Wiederkunft harrt?

Die enthaltenen Texte Ferdinand Grimms sind geordnet nach den Büchern, in denen sie ursprünglich erschienen sind, veröffentlicht. Den ersten Abschnitt bilden Geschichten aus den Volkssagen und Mährchen der Deutschen und Ausländer (1820), in denen neben einem erwartbaren Schema folgenden Märchen auch amüsant-unerwartete Sagen (wie etwa von einem Bettler, der sich aus dem übernatürlich bewachten Keller der Ruine einer Deutschordensburg mit Wein versorgen kann) enthalten sind. Die im nächsten Kapitel enthaltenen Volkssagen der Deutschen (1838) zeichnen sich dadurch aus, dass oft im selben Text unterschiedliche Varianten einer Sage nebeneinandergestellt werden (so etwa zur Herkunft von Rübezahl).

Die Burg- und Bergmärchen (1846 postum erschienen) führen dagegen in ein ganz anderes Genre, handelt es sich doch um von Märchen und Sagen inspirierte, literarisch ausgeformte Texte zwischen Kunstmärchen und früher Fantasy avant la lettre. Die Sprache ist hier für den modernen Geschmack oft etwas zu blumig und überbordend, der Inhalt aber durchaus nicht uninteressant (so dass man bedauert, dass die erste enthaltene Geschichte, Der Weibchenstein, nur in einer gekürzten Fassung aufgenommen ist). In diesen Texten stößt man nicht nur auf historisch höchst Erstaunliches (so verdankt die Familie der Fugger ihren unternehmerischen Erfolg hier nicht zuletzt dem Segen einer Waldfee), sondern auch auf die Erzählung Der Burgherr, in der das enge Verhältnis zweier Ritter, die sich über den Tod hinaus treu ergeben sind, sich nicht nur vor dem Hintergrund von Ferdinand Grimms möglicher eigener Homosexualität so liest, als ob hier zwischen den Zeilen mehr als nur Freundschaft gemeint ist.

Klassischer sagenhaft wird es wieder in den Texten aus Der unbekannte Bruder Grimm (1979), die Gerd Hoffmann und Heinz Rölleke aus Ferdinand Grimms Nachlass herausgaben. Neben den oben schon erwähnten Sagen um Karl den Großen sind hier vor allem viele Zwergengeschichten aller Art versammelt. Das Kapitel Aus dem Nachlass bietet schließlich noch eine kleine Auswahl bisher unpublizierter Geschichten. Darunter ist mit Een armer Buur auch ein niederdeutscher (allerdings mit einer hochdeutschen Übersetzung versehener) Text, in der der Tod zum Taufpaten eines Bauernsohns wird.

Im Anschluss daran folgt die reich bebilderte biographische Skizze, in der es Boehncke und Sarkowicz glückt, den Menschen Ferdinand Grimm mit seinen Talenten, Ecken, Kanten und Widersprüchen fassbar zu machen. Die Entscheidung, die Erzählung Tante Henriette, deren Veröffentlichung Grund genug für Wilhelm Grimm war, den Kontakt zu Ferdinand dauerhaft abzubrechen, erst im Anschluss daran zu präsentieren, ist verständlich, macht Ferdinand sich darin doch gnadenlos über Jacob und Wilhelm, aber auch und vor allem über dessen Frau Dorothea lustig, so dass ein wenig Vorwissen über Ferdinands zeitweiliges Zusammenleben mit den dreien und ihre Konflikte mit ihm zum Verständnis beiträgt. Bedauerlich ist allerdings, dass bei diesem Text, anders als bei den Märchen und Sagen, auf Anmerkungen und Worterläuterungen komplett verzichtet wurde, denn inwieweit einem heutigem Lesepublikum alle Wendungen, die Ferdinand hier gebraucht (so etwa ein ziemlich gemeines, aber auch witziges Wortspiel über reales und attisches Salz), oder erwähnte Zeitgenossen wie Skrzinecki noch unbedingt geläufig sind, darf wohl bezweifelt werden.

Insgesamt jedoch bietet Der fremde Ferdinand einen faszinierenden Einblick in Leben und Werk eines zu Unrecht vergessenen Textsammlers und Schriftstellers, und so sei die Lektüre nicht nur Märchen- und Sagenbegeisterten ans Herz gelegt, sondern auch allen, die sich dafür interessieren, was die Literatur der Romantik abseits der bis in die Gegenwart berühmten Namen zu bieten hat.

Heiner Boehncke, Hans Sarkowicz (Hrsg.): Der fremde Ferdinand. Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders. Mit einem Vorwort und einer biographischen Erkundung von Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz. Bereichert mit zahlreichen Abbildungen. Berlin, Die Andere Bibliothek, 2020 (Extradrucke der Anderen Bibliothek Nr. 428), 448 Seiten.
ISBN: 978-3-8477-2032-4

 


Genre: Biographie, Märchen und Mythen