Ob nun als Nahrung, Heilmittel, Bestandteil magischer Praktiken oder schöne Dekoration, Pflanzen sind bis heute aus keiner Epoche der Menschheitsgeschichte wegzudenken. Der Mediävist Helmut Birkhan spürt in seiner anregenden Studie Pflanzen im Mittelalter sowohl der ganz realen als auch der nur imaginierten Bedeutung der Flora für die mittelalterlichen Menschen nach. Unter den literarischen Quellen, auf die er sich dabei stützt, nehmen die Werke Konrads von Megenberg und Hildegards von Bingen die prominenteste Rolle ein, aber man begegnet auch Walahfrid Strabo, dem karolingischen Capitulare de villis, den an der Schwelle zur Frühen Neuzeit entstandenen Kräuterbüchern, dem St. Galler Klosterplan, so mancher Pflanzenerwähnung in der Dichtung und verschiedenen Bildern, unter denen das Frankfurter Paradiesgärtlein des sogenannten Oberrheinischen Meisters aus dem 15. Jahrhundert sicher zu den eindrucksvollsten zählt.
Trotz dieser vermeintlichen Quellenfülle ist es, wie schon in der Einleitung deutlich wird, keineswegs immer einfach, eindeutige Aussagen über Pflanzen im Mittelalter zu treffen, und das nicht, weil die Beschäftigung damaliger Gelehrter mit dem Thema von modernen naturwissenschaftlichen Standards noch ein gutes Stück entfernt war. Vielmehr stellen sich häufig allein schon sprachliche Zuordnungsprobleme, wenn eine mittelalterliche Pflanzenbezeichnung auf mehrere heutige Arten bezogen werden kann und die Beschreibungen vage genug bleiben, um eine exakte Identifikation unmöglich zu machen. Oft sind bei der Textauswertung also kleine oder große Rätsel zu lösen, aber Birkhan nimmt sich dieser Aufgabe voller Verve an.
Ein erster großer Abschnitt ist klassischen Nutzpflanzen gewidmet. Neben Getreide, Obst und Gemüse als wichtigen Grundsäulen der Ernährung spielen hier auch Pflanzen eine Rolle, aus denen Fasern für Textilien und Farbe gewonnen wurden, aber z.B. auch Holz und Schilf. Besonders beeindruckt Birkhan offenbar die Nutzung von fettgetränkten Binsen zur Beleuchtung, denn in der Folge setzt er das „Binsenlicht“ wiederholt als Sinnbild für seine eigene Forschungssituation ein, die die Vergangenheit nur ein wenig zu erhellen vermag, während vieles im Dunkeln bleiben muss.
Dieser Bescheidenheitsgestus kommt einem fast übertrieben vor, denn gerade im folgenden Kapitel, das Pflanzen im Hinblick auf ihre magische und medizinische Nutzung lexikalisch nach modernen Namen geordnet auflistet, weiß der Autor viele schlüssige Deutungen vorzuschlagen und nuanciert zwischen noch heute anerkannten Heilmethoden, solchen, die zumindest nach der mittlerweile überholten, aber im Mittelalter gültigen Humoralpathologie Sinn ergeben, und rein abergläubischen Vorstellungen zu unterscheiden.
Der folgende Abschnitt zu Nutz- und Lustgärten eröffnet bereits den Reigen der symbolischen Interpretation von Pflanzen, setzt er den Schwerpunkt doch eindeutig auf den Garten als bedeutungsvollen Schauplatz in literarischen Texten. Die Symbolik ist (neben Ausführungen zu Gesetzen über den Umgang mit Pflanzen) auch ein wichtiger Teil des Kapitels über Pflanzen im mittelalterlichen Recht. Umfangreicher ist die Betrachtung zu Pflanzen im Kontext der Religion. Hier sind besonders die zahlreichen Marienpflanzen berücksichtigt. Abschließend widmet Birkhan sich der Pflanze in der säkularen Kunst und Literatur des Mittelalters (wobei man sich sicher streiten kann, inwieweit die Einordnung von Weltenbäumen wie Yggdrasil in diesen Bereich schlüssig ist, da sie zwar nicht dem christlichen Kontext entstammen, als Produkte paganer Mythologie in ihrem Ursprung durchaus eine religiöse Komponente haben).
Der Anhang bietet neben den zu erwartenden bibliographischen Hinweisen auch einen nützlichen Index der erwähnten Pflanzen, die sowohl nach mittelalterlichen als auch nach modernen Bezeichnungen aufzufinden sind. Hervorzuheben ist die gelungene Buchgestaltung von Bettina Waringer, die mit Ausschnitten mittelalterlicher Bilder als Kapitelzierde arbeitet und ebenso wie das von J. Mullan aus Elementen des oben erwähnten Paradiesgärtleins reizvoll zusammengesetzte Cover dazu beiträgt, Pflanzen im Mittelalter zu einem auch äußerlich sehr schönen Buch zu machen. Inhaltlich lohnt sich die Lektüre sowohl für Mittelalterinteressierte als auch für Gartenbegeisterte unbedingt.
Helmut Birkhan: Pflanzen im Mittelalter. Eine Kulturgeschichte. Wien / Köln / Weimar, Böhlau, 2012, 312 Seiten.
ISBN: 978-3205787884