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Die Vergebung der Sünden

Das hier besprochene Buch ist Teil einer Reihe. Die Rezension des ersten Bandes ist hier zu finden.

Pfarrer Sidney Chambers ist eigentlich mehr als ausgelastet damit, seinen Beruf und das Familienleben mit Ehefrau Hildegard und Töchterchen Anna unter einen Hut zu bringen, aber der nächste Kriminalfall, in dem sein Scharfsinn als Ermittler gefragt ist, findet ihn ganz ohne sein Zutun: In Grantchester erscheint völlig aufgelöst ein Musiker und bittet um Kirchenasyl. Angeblich ist er am Morgen in einem Hotelzimmer neben seiner offenkundig erstochenen Ehefrau erwacht, kann sich aber nicht erinnern, ob er sie getötet hat oder nicht. Als Sidney und sein alter Freund, Inspector Geordie Keating, den vermeintlichen Tatort in Augenschein nehmen, erwartet sie eine Überraschung, denn von einer Leiche oder anderen Hinweisen auf eine Bluttat fehlt jede Spur. Nach einigen Verwicklungen wird aber tatsächlich eine Frau aus dem Umfeld des Musikers tot aufgefunden – allerdings nicht die, mit der er verheiratet ist …

Die Vergebung der Sünden ist natürlich ein Thema, das einen Geistlichen immer beschäftigen sollte, aber nicht jeder trägt so engagiert wie Sidney Chambers dazu bei, dass eine weltliche Sühne erfolgt. Wie gewohnt erzählt James Runcie auch in diesem Band um den Kirchenmann als Detektiv eine Reihe mehr oder minder in sich abgeschlossener Fälle, die durch eine gut zwei Jahre umspannende Hintergrundhandlung um Sidneys Privatleben und die beruflichen Veränderungen (samt Umzug), die eine Beförderung für ihn mit sich bringt, zusammengehalten werden. Typische Krimis sind nicht alle der sechs Geschichten: So geht es nur manchmal primär um die Aufklärung eines Mordes oder sonstigen Verbrechens, während in anderen Fällen relativ schnell klar ist, was sich abgespielt hat, und die sich daraus ergebende Situation bewältigt werden muss. Die Themen sind dabei in diesem Band ziemlich düster, so dass einem einige der Episoden sehr an die Nieren gehen. Beispielsweise werden Sidney und Hildegard zu einem Jagdwochende eingeladen, bei dem sich die Gastgeberin als Opfer häuslicher Gewalt erweist, aufgrund ihrer streng katholischen Überzeugungen aber gar nicht aus ihrer fürchterlichen Ehe ausbrechen will. An anderer Stelle geht es um sexuellen Missbrauch an einer Privatschule und die verheerenden Folgen des von allen, die etwas unternehmen könnten, lange totgeschwiegenen Systems. Auch aufgrund trauriger Parallelen in der Realität lesen sich diese Passagen noch weitaus verstörender als der recht spektakuläre Mord, bei dem ein Mann von seinem eben in Anlieferung befindlichen Konzertflügel erschlagen wird.

Sidneys Freundschaft mit Geordie tritt in diesem Band etwas in den Hintergrund. Für Frotzleien, die fließend in echte Kritik übergehen, ist nun eher Hildegard zuständig, die durch ihren Beruf als Pianistin und Klavierlehrerin auch einen der Anknüpfungspunkte für die immer wieder eingeflochtenen Exkurse in Kunst und Kultur bildet. Mit thematisch etwas anderem Schwerpunkt gilt das auch für Sidneys alte Freundin, die Kunsthistorikerin Amanda Kendall. Diese erhält nicht nur Drohbriefe und arrangiert eine Bildungsreise nach Florenz, auf der Sidney unter Diebstahlsverdacht gerät, sondern feiert auch ihre Hochzeit, was Sidney mit der Frage konfrontiert, ob er nicht doch noch mehr für sie empfindet, als es sich für einen verheirateten Mann eigentlich gehört. Die Figuren schon aus früheren Geschichten zu kennen, ist übrigens ganz hilfreich, da James Runcie mit den Charakterisierungen eher sparsam bleibt und nicht unbedingt ausführlich rekapituliert, wie bestimmte Konstellationen zustandegekommen sind.

Gewünscht hätte man dem Band ein gründlicheres inhaltliches Lektorat, weil hier und da kleine Kontinuitätsfehler auftreten (z. B. scheinen Sidney mehrfach Informationen, über die er schon verfügt, zu entfallen, ohne dass dies als absichtliche Schilderung von Vergesslichkeit oder Unaufmerksamkeit kenntlich gemacht wäre, und Amanda wird auch Monate nach ihrer Hochzeit von Bekannten noch als „Miss Kendall“ angesprochen). Stilistisch liest sich die Übersetzung von Renate Orth-Guttmann aber angenehm, und auch insgesamt bildet die Mischung aus Spannung, Sozialkritik, Humor und philosophischen Momenten keine schlechte Lektüre, obwohl es schöner gewesen wäre, wenn Runcie manchen seiner Figuren mehr Raum gelassen hätte, sich zu entfalten.

James Runcie: Die Vergebung der Sünden. Sidney Chambers ermittelt. 2. Aufl. Hamburg, Atlantik (Hoffmann und Campe), 2020, 368 Seiten.
ISBN: 978-3-455-00548-6

 

 


Genre: Anthologie, Erzählung, Roman

Der Schatten des Todes

Sidney Chambers ist anglikanischer Pfarrer im Dorf Grantchester in der Nähe von Cambridge und könnte dort eigentlich ein beschauliches Leben führen, um sich – man schreibt das Jahr 1953 – von seinen Kriegserlebnissen zu erholen. Doch nach der Beerdigung eines Anwalts sucht ihn die heimliche Geliebte des Verstorbenen auf und vertraut ihm an, dass sie überzeugt ist, dass der Mann ermordet wurde. Und ein Pfarrer, mit dem man offen reden kann, ist doch wohl der ideale Ermittler, um ihrem Verdacht nachzugehen? Sidney zieht dann doch lieber seinen Freund von der Polizei, Inspector Geordie Keating, zurate, der erst nicht an ein Verbrechen glauben will – nur, um bald eines Besseren belehrt zu werden. Das ist für den jungen Geistlichen der Auftakt zu einer ungeahnten Detektivkarriere …

Der Schatten des Todes enthält sechs Kurzkrimis, nimmt aber in gewisser Weise eine Zwischenstellung zwischen Roman und Geschichtensammlung ein, da die einzelnen kleinen Erzählungen, chronologisch angeordnet und auch über den Protagonisten hinaus durch wiederkehrende Figuren eng miteinander verflochten, eine übergreifende Hintergrundhandlung haben. Durch die im Buch schon angelegte Serienstruktur waren Sidney Chambers‘ Abenteuer natürlich für eine Fernsehverfilmung prädestiniert. Wer – wie die Rezensentin – erst durch die TV-Serie Grantchester überhaupt auf James Runcies Geschichten um den neugierigen Pfarrer aufmerksam geworden ist, wird allerdings eine Überraschung erleben, denn abgesehen vom ersten Fall, der denselben Titel wie das ganze Buch trägt, sind die Abweichungen zwischen dem Original und der Adaptation nicht nur inhaltlich beträchtlich.

Während in Grantchester bei allem immer wieder aufblitzenden Humor Dramatik und sozialkritische Aspekte betont werden, fehlen diese zwar auch im Buch nicht, wirken aber weniger plakativ. Runcie schreibt eher im Tonfall eines klassischen englischen Krimis irgendwo zwischen Agatha Christie und Dorothy L. Sayers, aber mit viel Augenzwinkern, Selbstironie und auch Nachdenklichkeit. Nicht jede Episode handelt dabei von einem Todesfall (auch wenn selbstverständlich mehrere Mörder ihr Unwesen treiben): Manchmal verschwindet auch nur etwas Wertvolles wie etwa ein Verlobungsring oder ein Gemälde und muss wieder aufgespürt werden. Gelegentlich führt ein Ausflug nach London auch einmal aus dem – wenn auch nicht ungetrübten – dörflichen Idyll fort.

Wie es sich für einen anständigen Detektiv gehört, hat Sidney Chambers natürlich auch ein Umfeld aus mehr oder minder schrägen Typen (vom Hilfsgeistlichen mit Faible für Philosophie und russische Literatur bis hin zur resoluten Haushälterin, die ihren verschollenen Ehemann noch am Leben wähnt, weil er sich in spiritistischen Sitzungen partout nicht kontaktieren lassen will). Zwei recht gegensätzliche Damenbekanntschaften garantieren dem Pfarrer ein interessantes Privatleben, und wie er zwischen Liebeswirren und Verbrechensaufklärung auch noch zu einem Hund kommt, liest sich vergnüglich und sympathisch.

Wer bei seiner Lektüre ständig atemlose Aufregung braucht, wird sie hier eher nicht finden (obwohl es durchaus sehr spannende Passagen gibt), aber alle, die Freude an Krimiunterhaltung in bester Genretradition haben und beim Lesen gern auch etwas ins Schmunzeln kommen, können sich hier ein paar entspannte Stunden in der englischen Nachkriegszeit gönnen.

James Runcie: Der Schatten des Todes. Sidney Chambers ermittelt. Hamburg, Atlantik (Hoffmann & Campe), 2. Aufl. 2017, 416 Seiten.
ISBN: 978-3-455-00045-0


Genre: Anthologie, Roman