Häufig assoziiert man mit dem alten Rom vor allem die erhaltenen Reste prunkvoller Architektur, einzelne Kunstwerke, die die Zeit überdauert haben, oder die in Historiographie und Selbstzeugnissen relativ gut dokumentierte Oberschicht, vielleicht auch noch deren Sklaven. Doch in der frühen Millionenmetropole lebte ein Großteil der freien Menschen in prekären Verhältnissen oder gar in bitterster Armut. Diese „kleinen Leute in der größten Stadt der Antike“ in den Mittelpunkt zu rücken und sie vor allen Dingen von dem Stigma zu befreien, eine mit der sprichwörtlichen Kombination aus Brot und Spielen ruhiggestellte, untätige Masse gewesen zu sein, ist das erklärte Ziel von Karl-Wilhelm Weeber in seinem neuen Buch Arm in Rom. Zu analysieren, in welchem Kontext der Satiriker Juvenal die sprichwörtlich gewordene Wendung panem et circenses überhaupt gebraucht, ist daher einer seiner Ansatzpunkte, bevor in thematisch geordneten, jeweils mit einem passendem lateinischen Begriff überschriebenen Kapiteln einzelnen Aspekten des Daseins der Armen in Rom nachgespürt wird.
Sonderlich rosige Lebensumstände gab es dabei für die meisten nicht, und selbst die bekannte, oft als universelle Sozialleistung missverstandene Getreideverteilung erfolgte nicht nach Bedürftigkeit, sondern nach auf eine relativ geringe Anzahl von Empfängern beschränkten Berechtigungslisten, in die überhaupt nur männliche römische Bürger im Jugend- und Erwachsenenalter aufgenommen werden konnten, ohne dass sich der Anspruch auf Hinterbliebene vererben ließ. Auch private Wohltätigkeit war oft mit der Hoffnung auf Gegengefallen verknüpft und daher gar nicht auf die Allerärmsten ausgerichtet, von denen vielen nur noch das Betteln oder die oft unter menschenunwürdigen Bedingungen ausgeübte Prostitution blieb, um sich irgendwie durchzubringen.
Selbst wer nicht ganz so weit abrutschte, wohnte in den insulae oft in unschönen Verhältnissen, hatte nur ein eingeschränktes Angebot an Nahrungsmitteln zur Auswahl, trug nicht die beste Kleidung und konnte nicht einmal auf ein sonderlich pietätvolles Begräbnis hoffen. Umso bitterer wirkt die Verachtung, die von der Elite, die von den Erträgen ihres Landbesitzes leben konnte, vielfach denjenigen entgegengebracht wurde, die gezwungen waren, durch eigene, oft körperlich schwere Arbeit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Selbstzeugnisse aus der Unterschicht zu finden und zu erfahren, wie ärmere Römer sich und andere sahen, ist dagegen schwierig bis unmöglich (am ehesten glückt es vielleicht noch bei allerdings schon der Mittelschicht zuzurechnenden Handwerkern, die selbstbewusst ihre Berufe auf ihren Grabsteinen präsentierten).
Ein Leben ohne schöne Seiten und Einflussmöglichkeiten also? Nicht ganz – denn dass es ein gewisses Maß an Freizeitvergnügen (nicht nur in Form der oft zitierten Spiele) gab, wird ebenso deutlich wie die Tatsache, dass bestimmte Formen politischen Protests bis zu einem gewissen Grade geduldet waren und im Einzelfall durchaus die Entscheidungsträger beeinflussen konnten. Doch selbst abgesehen davon hatten Arme in Rom in einigen Punkten mehr Glück als ihre genauso mittellosen Zeitgenossen anderswo: Hungersnöte waren für antike Verhältnisse in der Stadt Rom selten, und die für alle kostenlose Wasserversorgung war hervorragend. Trotz dieser kleinen Lichtblicke schreibt Weeber konsequent gegen „die zynische Mär vom Sozialparadies Rom“ (so der Untertitel des dritten Kapitels) an und öffnet in leicht verständlichem, gut zu lesendem Stil die Augen dafür, dass eben nicht nur Sklaverei, Eroberungskriege und Gemetzel an Menschen und Tieren in der Arena zu den Schattenseiten der römischen Kultur zählen, sondern auch eine große soziale und finanzielle Ungleichheit, die in manchen populären Darstellungen ausgeblendet wird. Für alle, die einen umfassenderen Blick auf das antike Rom entwickeln wollen und einen ersten Einstieg ins Thema suchen, ist das relativ kurze Buch, das den einfachen Leuten mit viel Respekt und Sympathie begegnet, daher bestens geeignet.
Karl-Wilhelm Weeber: Arm in Rom. Wie die kleinen Leute in der größten Stadt der Antike lebten. Darmstadt, Theiss (wbg), 2023, 224 Seiten.
ISBN: 978-3-8062-4513-4