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Wie wir Menschen wurden

Die menschliche Evolution und damit auch die Entstehung spezifisch menschlicher Eigenschaften wie des aufrechten Gangs und der differenzierten Sprache spielten sich in Afrika ab, bevor der Mensch sich dann auf der ganzen Welt ausbreitete – so lautete lange die gängige Lehrmeinung, und so sehen die meisten die eigenen Ursprünge auch bis heute. Die Paläontologin Madelaine Böhme setzt dagegen ein differenzierteres Bild der Menschwerdung, in dem neben Afrika auch Europa und Eurasien sowie zahlreiche Wanderungsbewegungen zwischen diesen Kontinenten eine große Rolle spielen. Unterstützt von den Wissenschaftsjournalisten Rüdiger Braun und Florian Breier wendet sie sich mit ihrem Buch Wie wir Menschen wurden bewusst an ein breites Publikum, um an vermeintlichen Gewissheiten zu rütteln.

Von zentraler Bedeutung für Böhmes Gegenentwurf sind in Europa gemachte Funde, darunter der frühe Menschenaffe Danuvius guggenmosi, den Böhme selbst 2016 im Allgäu entdeckte und dessen besterhaltenes Exemplar – ein Männchen – nach dem Sänger Udo Lindenberg auf den Spitznamen „Udo“ getauft wurde, aber auch der in Griechenland entdeckte Graecopithecus freybergi und versteinerte Fußspuren auf Kreta, die einen frühen Beleg für den aufrechten Gang bilden. Wie andere typisch menschliche Merkmale (z.B. Besonderheiten der Zähne) könnte dieser sich durchaus zuerst in Europa herausgebildet haben.

Böhme attestiert den älteren Theorien jedoch ein großes Beharrungsvermögen in der Paläontologie, die sie ohnehin als eine Wissenschaft schildert, die zumindest partiell noch in einer Schatzsuchermentalität verharrt, wie sie für die Archäologie im 19. Jahrhundert typisch war, und in der es immer wieder auch zu Skandalen kommt. Als besonders kritikwürdig geschildert wird das Verhalten des französischen Paläontologen Michel Brunet, der hier des Verschwindenlassens eines nicht zu einer von ihm favorisierten Interpretation passenden Knochens des von seinem Team gefundenen Sahelanthropus tchadensis verdächtigt wird. Doch auch abgesehen von solchen Beispielen wissenschaftlich unsauberen Arbeitens wird deutlich, auf welch geringer Fundbasis oft sehr weitreichende Annahmen fußen.

Das, was sich über die menschliche Evolution mit Sicherheit sagen oder auch nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vermuten lässt, stellen Böhme und ihre Mitautoren jedoch sehr anschaulich und in einem reportagehaften, blendend lesbaren Stil dar, der auch für Leserinnen und Lesern, die sonst nie zum Sachbuch greifen, die Schwelle niedrig hält. Neben zahlreichen Fotos und Grafiken bereichern auch eindrucksvolle Rekonstruktionen des Künstlers Velizar Simeonovski, dessen Darstellungsweise im besten Sinne an die Bilder Zdeněk Burians erinnert, das Buch.

Doch auch im Text selbst wird neben reinen Sachschilderungen mehrfach zu einem imaginären Spaziergang durch eine prähistorische Landschaft eingeladen. An diesen immersiven Zeitreisen fällt allerdings eines auf: In den seltenen Fällen, in denen (vor-)menschliche Individuen handelnd hervortreten, stehen immer Männer im Mittelpunkt. So erleben wir „Udo“ (oder einen nahen Verwandten) bei der Verteidigung seiner Gruppe gegen ein Raubtier und später vier Urmenschenmänner, die nach einem Gewitter erkennen, dass das Feuer beherrschbar ist. Die ausführlicher besprochenen weiblichen Individuen (so z.B. der erste Fund eines Homo floresiensis oder „Denny“, ein Mädchen, das laut genetischer Untersuchung eine Neandertalerin zur Mutter und einen Denisova-Menschen zum Vater hatte) bekommen keine Auftritte in eigenen Lebensbildern. Das farbige Heraufbeschwören der urzeitlichen Welten reiht sich damit – wenn auch vermutlich nicht gezielt – leider in die Tradition ein, ein rein männerdominiertes Bild früherer Epochen zu entwerfen und Frauen und Kindern allenfalls Nebenrollen zuzubilligen.

Dieser kleine Wermutstropfen schmälert allerdings nicht die Leistung, ein auch für Laien ungemein gut zugängliches Werk über die Paläoanthropologie vorgelegt zu haben. Lesenswert ist Wie wir Menschen wurden allemal, solange man sich bei der Lektüre den kritischen Blick bewahrt, den Madelaine Böhme selbst wiederholt anmahnt.

Madelaine Böhme, Rüdiger Braun, Florian Breier: Wie wir Menschen wurden. Eine kriminalistische Spurensuche nach den Ursprüngen der Menschheit. München, Heyne, 2019, 336 Seiten.
ISBN: 978-3453207189


Genre: Sachbuch allgemein