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Der Makedonier

Meine erste Begegnung mit Nicholas Guilds historischen Romanen hatte ich als Dreizehnjährige: Der Assyrer und die Fortsetzung Tiglat, Sohn des Königs faszinierten mich damals ungemein. Es geht in beiden Büchern zwar recht blutrünstig zu und der Ich-Erzähler Tiglat, ein fiktives Mitglied des assyrischen Herrscherhauses, vergnügt sich mit einer ganzen Anzahl williger Gespielinnen, aber spannend lesen sich seine Abenteuer allemal. Ohne einen Hauch von Nostalgie konnte ich mich Guilds drittem auf Deutsch erschienenen historischen Roman Der Makedonier also gar nicht nähern, daneben aber auch mit reichlich Neugier, denn eine relativ gut fassbare reale Gestalt zum Protagonisten zu machen, stellt noch einmal andere Anforderungen, als eine erfundene Hauptfigur in ein historisches Umfeld einzufügen. Allerdings liefert Philipps Leben zugegebenermaßen eine Steilvorlage, um die Art von Geschichte über Gewalt, Intrigen und Liebschaften zu erzählen, die auch die Assyrer-Bände prägt.
Guilds Philipp wird als jüngster Sohn des makedonischen Königs Amyntas in eine Familie hineingeboren, die es mit ihren Mitgliedern nicht unbedingt gut meint. „Die Argeaden bringen sich seit Generationen gegenseitig um – das ist fast schon ein Gewohnheitsrecht“, lässt ihn der Autor mit reichlich Galgenhumor konstatieren, und so prägen von Kind auf an die Ablehnung seiner hasserfüllten, vielleicht gar geistesgestörten Mutter, das Desinteresse seines Vaters und Rivalitäten innerhalb der Brüderschar das Leben des jungen Philipp, der seinem Umfeld gleichwohl (nicht unbedingt zu dessen Freude) als Auserwählter der Götter erscheint, dem mehrere als Wunderzeichen interpretierte Vorfälle eine glänzende Zukunft verheißen. Früh entwickelt er sich zum tatkräftigen Menschen, der schon in seiner Zeit als Geisel bei Illyrern und Thebanern sein Schicksal selbst in die Hand nimmt und sich den Anschlägen des Ptolemaios von Aloros gewachsen zeigt, der erst als Geliebter, später als zweiter Ehemann von Philipps Mutter selbst nach der Macht giert und in dem Knaben zielsicher die größte Bedrohung seiner Herrschaftsambitionen ausmacht …
Die Entscheidung, die Handlungszeit des Romans auf die erste Hälfte von Philipps Leben zu beschränken, verschafft Guild dabei ein gewisses Maß an interpretatorischem und gestalterischem Spielraum, denn natürlich sind Philipps frühe Jahre und sein Aufstieg zur Macht weniger dicht dokumentiert als seine Königsherrschaft. Manches, was hier geschildert wird, ist daher Spekulation, so z.B., wie genau Philipp nach allerlei glücklich überstandenen Kämpfen und Winkelzügen die Nachfolge seines Bruders Perdikkas antritt (Guild lässt ihn gleich den Königstitel annehmen und breite Unterstützung finden, während in der Forschung oft die Meinung vertreten wird, dass Philipp zunächst womöglich als Regent für seinen unmündigen Neffen fungierte und erst nach Sicherung seiner Machtbasis auch offiziell als König nachrückte).
Die verfügbaren Informationen hat Guild jedoch offensichtlich gründlich recherchiert, von prosopographischen Details über die verwirrende Staatenwelt Griechenlands und angrenzender Gebiete bis hin zum Wandel der militärischen Taktik in Philipps Epoche. Sogar manches, was man auf den ersten Blick als dichterische Freiheit abtun möchte, hat eine historische Basis: Wenn z.B. das Kind, das in ferner Zukunft einmal als Ptolemaios I. über Ägypten herrschen wird, als Sohn Philipps aus einem Verhältnis mit seiner Verwandten Arsinoe erscheint, ist das keine Erfindung Guilds, sondern eine auf schon in der Antike kolportierten Gerüchten beruhende Deutung.
Obwohl an der Handlung an sich also wenig auszusetzen ist, verdienen die Figurenzeichnung und die damit einhergehende Wertung zumindest ein Fragezeichen. Während Philipp sicherlich auch historisch über viele der ihm von Guild zugeschriebenen Eigenschaften wie Intelligenz, Entschlossenheit, Risikofreude, Mut und militärische Begabung verfügte, ist er hier nicht einfach nur die Hauptperson, sondern wirklich ein Held, der zwar bisweilen mit der eigenen Skrupellosigkeit ringen darf, aber eigentlich immer eine passende Entschuldigung dafür geliefert bekommt. Wer gegen Philipp agiert oder nicht dem Wertekanon kriegerischer Tugenden gemäß lebt, wird dagegen wesentlich negativer dargestellt. Da es sich überwiegend nicht um fiktive Gestalten, sondern um reale Persönlichkeiten handelt, ist diese etwas undifferenzierte Beurteilung nicht unproblematisch.
Eine etwas größere Bandbreite hätte man sich auch bei den meist in Nebenrollen verbannten Frauengestalten gewünscht, und das nicht nur, weil körperliche Schönheit bei ihnen ein serienmäßiges Ausstattungsmerkmal zu sein scheint: Verdächtig häufig taucht die Konstellation auf, dass eine Frau einen Mann heiß und innig liebt, obwohl sie durchaus erkennt, dass er sie ausnutzt oder gar schlecht behandelt. So unterschiedliche Personen wie Philipps boshafte Mutter Eurydike, seine blasse Schwester oder seine tugendhafte erste Gemahlin Phila sind in dieser Hinsicht offenbar ganz ähnlich gestrickt. Der umgekehrte Fall eines rettungslos in eine berechnende Frau verschossenen Mannes scheint in Guilds Makedonien keinen Platz zu haben, wie ohnehin auffällt, dass er die Charakteristika der Männerwelt der Krieger und Herrscher sehr selektiv nutzt, um seinen Helden einem für heutige Begriffe traditionellen Bild von Maskulinität entsprechen zu lassen.
Bezeichnend ist hierfür sein Umgang mit dem Thema homosexueller Beziehungen. Während diese für den historischen Philipp nachgewiesen sind, darf der Roman-Philipp sich zwar mit der Damenwelt von der Prostituierten bis zur Prinzessin vergnügen, doch jegliche Neigung zur Knabenliebe wird ihm explizit abgesprochen. Der im altgriechischen Kulturraum gängigen Päderastie frönt abgesehen von bestenfalls ambivalent gezeichneten Nebenfiguren nur der Schurke Ptolemaios von Aloros. Auch das heikle Thema der Polygamie umschifft Guild bei Philipp (dessen Vater er gleichwohl die historisch belegten parallelen Ehen führen lässt), indem er Philipps erste Frau Phila schon weit vor der Heirat des jungen Königs mit der Illyrerin Audata sterben lässt und den Roman mit dieser anscheinend politisch wie privat perfekten Hochzeit beendet. Wenn man allerdings weiß, wie wildbewegt Philipps Leben weiterging, fälllt es schwer, auf das schöne Happy End und vor allem auf die Philipps Haushofmeister Glaukon in den Mund gelegte Hoffnung, dass der König nun „glücklich sein“ und „endlich ein wenig Frieden finden“ möge, nicht mit einem Anfall von blankem Zynismus zu reagieren.
Neben solchen wohl bewussten Abweichungen von der geschichtlichen Realität fallen einige kulturhistorische Schnitzer auf. Allerdings ist nicht ganz klar, ob der „Truthahn“, der sich ins alte Griechenland verirrt hat, die mehrfach auftauchende neuzeitliche „Kommode“ und andere Anachronismen schon im Original so angelegt waren oder auf die Übersetzung von Klaus Berr zurückgehen, die sprachlich ansonsten überzeugt. Nur das Namenssystem wirkt etwas uneinheitlich, nicht allein, weil Philipp der Einzige ist, dessen Name in eingedeutschter Form benutzt wird; manchmal ist auch einfach die im Englischen gebräuchliche latinisierte Schreibweise übernommen (z.B. „Acarnania“ statt „Akarnanien“, „Deucalion“ statt „Deukalion“) oder eine historische Person umbenannt (z.B. „Lukios“ statt „Lagos“ für den Mann der Arsinoe, „Eurydike“ statt „Eurynoe“ für Philipps Schwester). Auch warum aus dem „Macedonian“ des Originals in der deutschen Fassung statt des üblichen „Makedonen“ ein „Makedonier“ geworden ist, wird wohl das Geheimnis von Übersetzer und Verlag bleiben.
Ungeachtet aller Kritikpunkte kann man dem Makedonier aber seinen hohen Unterhaltungswert nicht absprechen. Blendet man die Problematik der unverkennbaren Heroisierung und Glättung einer realen historischen Gestalt aus, macht es durchaus Spaß, die abenteuerlichen Erlebnisse des Prinzen und späteren Königs in einer bunten, lebendig geschilderten Welt zu verfolgen, und hätte ich dieses Buch auch vor über zwanzig Jahren und mit weniger kritischem Blick gelesen (wie die anderen Werke aus gleicher Feder), dann wäre ich wohl begeistert gewesen. So bleibt es immerhin bei einer bedingten Leseempfehlung, denn gelungener als so manche Alternative ist Guilds Makedonier auf jeden Fall.

Nicholas Guild: Der Makedonier. List, 1993, 512 Seiten.
ISBN: 3471776729


Genre: Roman