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Der Fluch des Spielmanns

In den frühmittelalterlichen Alpen wird der Gaukler Corvin vom Pech verfolgt: Nicht genug damit, dass er vor kurzem einen herben Verlust erleiden musste, nun liegt er mit gebrochenem Bein in der bescheidenen Bleibe des alten Einsiedlers Goan und muss sich noch dazu mit drei sehr beharrlichen Geistern herumschlagen, die ihm für den Fall, dass er nicht tut, was sie von ihm verlangen, Böses androhen. Goans Fragen (und sein Bier) locken schließlich die Geschichte, was es mit den dreien auf sich hat, aus seinem verletzten Gast hervor, aber kann und soll er wirklich auf das Anliegen der Gespenster eingehen?

Der Titel von Nike Leonhards Erzählung Der Fluch des Spielmanns evoziert vielleicht nicht ganz zufällig Des Sängers Fluch, denn hier wie dort geht es um die prekäre Situation Fahrender, die auf die Gunst wohlhabender und mächtiger Sesshafter angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, gleichzeitig aber auch immer damit rechnen müssen, zu Opfern von Willkür zu werden. Leonhard gelingt dabei das Kunststück, das Gauklerdasein, das sich aus schierer Not immer an der Grenze zur Legalität bewegt, nicht zu verklären, wie es in romantisierenden Mittelalterdarstellungen oft der Fall ist, aber dennoch auch seine schönen Augenblicke wie die Freude über einen gelungenen Auftritt und einen mühsam erhaschten kleinen Fetzen des guten Lebens greifbar zu machen. Doch auch abseits der fahrenden Spielleute aus Corvins Wahlfamilie fließen so viel Wissen über und Begeisterung für das Mittelalter, seine Alltagskultur und seine Rechtsvorstellungen in die Erzählung mit ein, dass die geschilderte Welt, in der christliche und pagane Überzeugungen noch nebeneinander existieren, ungemein glaubhaft wirkt.

Die Ausgangssituation – ein auf sich gestellter Held, der sich durch sein eigenes Verhalten unabsichtlich gewaltige Schwierigkeiten auch übernatürlicher Natur eingebrockt hat, aber durch einen Aufenthalt bei einem Eremiten Gelegenheit hat, seinem Leben eine andere Wendung zu geben – erinnert ein wenig an eine der Schlüsselstellen im Parzival Wolframs von Eschenbach, aber ob Goan eine adäquate Besetzung für die Rolle des Trevrizent ist, darf man durchaus hinterfragen. Denn auch mit dem in Glauben und Aberglauben gleichermaßen kundigen Einsiedler hat es mehr auf sich, als man zunächst vermuten könnte, und so nimmt die Geschichte gegen Ende eine unerwartete Wendung.

Eine Besonderheit der Erzählung ist das ausführliche Nachwort, in dem Leonhard nicht nur den historischen Hintergrund (und einige bewusste Abweichungen davon) und literarische Anklänge (eine Ahnin von Victor Hugos Djali aus dem Glöckner von Notre-Dame hat im Buch einen Auftritt) detailliert erläutert, sondern auch die Inspiration zu der Geschichte, die ein archäologischer Fund lieferte: In einem abgelegenen Berggebiet stieß man auf drei Tote aus der Zeit um 800, die offensichtlich gewaltsam ums Leben gekommen und höchst irregulär abseits aller damaligen Siedlungen bestattet worden waren (dass es sich um den Fund von Falein in der Schweiz handelt, wird zwar nicht explizit gesagt, ist aber aufgrund der Beschreibung wahrscheinlich).

So ist die traurige, aber nicht ohne jede Hoffnung endende Geschichte eine spannende und auch sprachlich gelungene Mischung aus Spuk und Grusel, dem Ausloten des historisch Möglichen und einem Anflug von Bewunderung für all diejenigen, die durchs Raster einer Gesellschaft fallen, sich aber auf die ein oder andere Art clever durchzuschlagen wissen und zusammen vielleicht mit etwas Glück zumindest für eine Weile stark genug sein können, um unter widrigen Umständen zu bestehen.

Nike Leonhard: Der Fluch des Spielmanns (Codex Aureus 3). Frankfurt 2016 (E-Book).


Genre: Erzählung

Der Atem des Drachen

Zauberkräftige Feen, hilfreiche Hexen, sanfte Männer, findige Frauen, bestrafte Bösewichte und nicht zu fassende Wolkenschafe: Nike Leonhard erzählt in Der Atem des Drachen sieben Märchen, die auf den ersten Blick wie traditionelle Vertreter ihres Genres anmuten könnten, es auf den zweiten aber dann doch nicht sind. Machtverhältnisse und Geschlechterrollen werden ebenso hinterfragt wie klassische Erzählmuster, und so kann sich hier auch schon einmal eine lesbische Liebesgeschichte ergeben oder die Erkenntnis warten, dass eine Heirat nicht das Ziel aller Träume sein muss.

Der Segen der Fee wird zum Einstieg auf sehr spezielle Weise einem Unsympathen zuteil, der die Erfüllung dreier nicht unbedingt gut durchdachter Wünsche erzwingt, die nicht ohne Konsequenzen bleibt.

Auch im folgenden Märchen Der Fischer und die Nixe findet eine Begegnung zwischen einem Menschenmann und einem übernatürlichen Wesen statt, aber da der Protagonist charakterlich nicht so geartet ist wie der der ersten Geschichte, nimmt alles einen anderen Ausgang.

Dagegen erweist sich Die Flut nach vermeintlich klassischem Beginn als eine ins Märchengewand gehüllte Kritik an den aktuellen Problemen um die Bewältigung der Klimakrise: Verkürzt ausgedrückt weigert sich hier die Politik, Maßnahmen gegen eine sich ankündigende Naturkatastrophe zu ergreifen, mit erwartbaren Folgen.

Der Atem des Drachen, der auch den Titel für die ganze Sammlung liefert, bietet nicht nur den in ein scheinbar ganz typisches Questenabenteuer ausziehenden jüngsten Sohn aus bescheidenen Verhältnissen, sondern mit der Verwandlung einer Person in eine Statue und dem in der mittelalterlichen Literatur gar nicht einmal so seltenen Motiv, dass sich in einem Drachen in Wahrheit ein Mensch verbirgt, noch weitere vertraute Elemente, die aber, originell kombiniert, auf ein Ende hinführen, das man so vielleicht nicht erwartet hätte.

Auch bei Prinzessin Furiosa bildet ein klassischer Baustein – das Turnier, bei dem ein passender Ehepartner für eine Prinzessin bestimmt werden soll – den Ausgangspunkt, allerdings mit der Besonderheit, dass es hier die Prinzessin selbst ist, die auf diesem Weg jemanden mit ganz speziellen Eigenschaften finden möchte. Jemand, der als der Bunte Hund bekannt ist, aber stets nur maskiert auftritt, erfüllt ihre Anforderungen mühelos, doch es gibt ein Geheimnis, das dem glücklichen Ende im Weg stehen könnte.

Bei Dunkelschön oder: Die verschwundene Kiste hat man den Eindruck, dass hier die Geschichte von den drei Äpfeln aus Tausendundeine Nacht Pate gestanden haben mag: Ist es dort der Wesir, dem der Kalif mit der Hinrichtung droht, wenn er ein Verbrechen nicht aufklärt, sieht sich hier der Schatzkanzler einer Königin mit dem gleichen brutalen Ultimatum konfrontiert. In beiden Fällen ist es eine Tochter des unglücklichen Hofbeamten, die schließlich hilft, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen, allerdings im Fall der hier titelgebenden Dunkelschön wesentlich aktiver und um eine märchentypische Prüfung nach dem Muster der Sechs Schwäne ergänzt. Zugleich wird der Bogen zur ersten Geschichte zurückgeschlagen, denn wie genau deren Ende sich ergeben hat, erfährt man hier ebenfalls.

Den Abschluss bilden die Wolkenschafe, in denen das geläufige Motiv, dass einem Bewerber um die Hand einer Frau eine schier unmögliche Aufgabe zur Bedingung für die Heirat gemacht wird, in kreativer Weise zum Einsatz kommt.

Nike Leonhard schreibt sprachlich gewandt und trifft den überkommenen Märchentonfall gut, nur um ihn hier und da gezielt etwa mit einem „Sag’ mal, spinnst du?“ zu torpedieren, das überdeutlich macht, dass der Blickwinkel ein moderner ist und immer wieder auch dezidierte Sozialkritik geübt wird. Spaß machen die eingestreuten literarischen Anspielungen, denn neben kleinen Hinweisen etwa auf Rotkäppchen oder Moby Dick begegnet einem auch d’Artagnans sehr spezielles Pferd aus den Drei Musketieren wieder, das diesmal aber das Glück hat, bei einem rücksichtsvolleren und netteren Menschen gelandet zu sein.

Ohnehin wird immer wieder Sympathie für diejenigen deutlich, die Mensch und Tier freundlich und respektvoll behandeln und in materieller Hinsicht bescheiden bleiben, statt auf zu Lasten anderer gehenden Reichtum und Luxus aus zu sein. Eine äußerliche Besonderheit des Buchs sind die jeder Geschichte vorangestellten Bilder, die nicht den jeweiligen Text illustrieren, sondern als symbolische Content Notes dienen (der Schlüssel dazu ist hinten im Buch abgedruckt). Wer Wert auf Inhaltswarnungen legt, wird also fündig, während alle anderen zumindest Spaß an den niedlichen Kaninchen, Mäusen & Co. haben dürften.

Nike Leonhard: Der Atem des Drachen. Neue Märchen. Norderstedt, BoD, 2023, 204 Seiten.
ISBN: 978-3-7481-3331-5


Genre: Anthologie, Erzählung, Märchen und Mythen