Der Atem des Drachen

Zauberkräftige Feen, hilfreiche Hexen, sanfte Männer, findige Frauen, bestrafte Bösewichte und nicht zu fassende Wolkenschafe: Nike Leonhard erzählt in Der Atem des Drachen sieben Märchen, die auf den ersten Blick wie traditionelle Vertreter ihres Genres anmuten könnten, es auf den zweiten aber dann doch nicht sind. Machtverhältnisse und Geschlechterrollen werden ebenso hinterfragt wie klassische Erzählmuster, und so kann sich hier auch schon einmal eine lesbische Liebesgeschichte ergeben oder die Erkenntnis warten, dass eine Heirat nicht das Ziel aller Träume sein muss.

Der Segen der Fee wird zum Einstieg auf sehr spezielle Weise einem Unsympathen zuteil, der die Erfüllung dreier nicht unbedingt gut durchdachter Wünsche erzwingt, die nicht ohne Konsequenzen bleibt.

Auch im folgenden Märchen Der Fischer und die Nixe findet eine Begegnung zwischen einem Menschenmann und einem übernatürlichen Wesen statt, aber da der Protagonist charakterlich nicht so geartet ist wie der der ersten Geschichte, nimmt alles einen anderen Ausgang.

Dagegen erweist sich Die Flut nach vermeintlich klassischem Beginn als eine ins Märchengewand gehüllte Kritik an den aktuellen Problemen um die Bewältigung der Klimakrise: Verkürzt ausgedrückt weigert sich hier die Politik, Maßnahmen gegen eine sich ankündigende Naturkatastrophe zu ergreifen, mit erwartbaren Folgen.

Der Atem des Drachen, der auch den Titel für die ganze Sammlung liefert, bietet nicht nur den in ein scheinbar ganz typisches Questenabenteuer ausziehenden jüngsten Sohn aus bescheidenen Verhältnissen, sondern mit der Verwandlung einer Person in eine Statue und dem in der mittelalterlichen Literatur gar nicht einmal so seltenen Motiv, dass sich in einem Drachen in Wahrheit ein Mensch verbirgt, noch weitere vertraute Elemente, die aber, originell kombiniert, auf ein Ende hinführen, das man so vielleicht nicht erwartet hätte.

Auch bei Prinzessin Furiosa bildet ein klassischer Baustein – das Turnier, bei dem ein passender Ehepartner für eine Prinzessin bestimmt werden soll – den Ausgangspunkt, allerdings mit der Besonderheit, dass es hier die Prinzessin selbst ist, die auf diesem Weg jemanden mit ganz speziellen Eigenschaften finden möchte. Jemand, der als der Bunte Hund bekannt ist, aber stets nur maskiert auftritt, erfüllt ihre Anforderungen mühelos, doch es gibt ein Geheimnis, das dem glücklichen Ende im Weg stehen könnte.

Bei Dunkelschön oder: Die verschwundene Kiste hat man den Eindruck, dass hier die Geschichte von den drei Äpfeln aus Tausendundeine Nacht Pate gestanden haben mag: Ist es dort der Wesir, dem der Kalif mit der Hinrichtung droht, wenn er ein Verbrechen nicht aufklärt, sieht sich hier der Schatzkanzler einer Königin mit dem gleichen brutalen Ultimatum konfrontiert. In beiden Fällen ist es eine Tochter des unglücklichen Hofbeamten, die schließlich hilft, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen, allerdings im Fall der hier titelgebenden Dunkelschön wesentlich aktiver und um eine märchentypische Prüfung nach dem Muster der Sechs Schwäne ergänzt. Zugleich wird der Bogen zur ersten Geschichte zurückgeschlagen, denn wie genau deren Ende sich ergeben hat, erfährt man hier ebenfalls.

Den Abschluss bilden die Wolkenschafe, in denen das geläufige Motiv, dass einem Bewerber um die Hand einer Frau eine schier unmögliche Aufgabe zur Bedingung für die Heirat gemacht wird, in kreativer Weise zum Einsatz kommt.

Nike Leonhard schreibt sprachlich gewandt und trifft den überkommenen Märchentonfall gut, nur um ihn hier und da gezielt etwa mit einem „Sag’ mal, spinnst du?“ zu torpedieren, das überdeutlich macht, dass der Blickwinkel ein moderner ist und immer wieder auch dezidierte Sozialkritik geübt wird. Spaß machen die eingestreuten literarischen Anspielungen, denn neben kleinen Hinweisen etwa auf Rotkäppchen oder Moby Dick begegnet einem auch d’Artagnans sehr spezielles Pferd aus den Drei Musketieren wieder, das diesmal aber das Glück hat, bei einem rücksichtsvolleren und netteren Menschen gelandet zu sein.

Ohnehin wird immer wieder Sympathie für diejenigen deutlich, die Mensch und Tier freundlich und respektvoll behandeln und in materieller Hinsicht bescheiden bleiben, statt auf zu Lasten anderer gehenden Reichtum und Luxus aus zu sein. Eine äußerliche Besonderheit des Buchs sind die jeder Geschichte vorangestellten Bilder, die nicht den jeweiligen Text illustrieren, sondern als symbolische Content Notes dienen (der Schlüssel dazu ist hinten im Buch abgedruckt). Wer Wert auf Inhaltswarnungen legt, wird also fündig, während alle anderen zumindest Spaß an den niedlichen Kaninchen, Mäusen & Co. haben dürften.

Nike Leonhard: Der Atem des Drachen. Neue Märchen. Norderstedt, BoD, 2023, 204 Seiten.
ISBN: 978-3-7481-3331-5


Genre: Anthologie, Erzählung, Märchen und Mythen