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Hochbegabt

Ein kleiner Junge sitzt auf einer Bank auf einem Schulhof, um still das Treiben in der Pause zu beobachten und seinen Gedanken nachzuhängen. Mit dieser autobiographischen Szene aus dem Aufsatz eines Fünftklässlers lässt Ole Kyed seinen Ratgeber Hochbegabt einsetzen und gibt damit zugleich einen Vorgeschmack auf Ton und Zielrichtung des Buchs. Hier geht es nicht darum, Hochbegabte gewissermaßen als Ressource für Wirtschaft und Gesellschaft zu erschließen oder den Einzelnen auf Höchstleistung in Schule, Studium und Beruf zu trimmen. Vielmehr steht der Ansatz im Mittelpunkt, den Kindern und Jugendlichen und damit letztlich auch den Erwachsenen, zu denen sie heranwachsen, ein menschlich gelungenes Leben zu ermöglichen.
Zusätzlich zu den allgemeinverständlich formulierten und gut lesbaren Sachteilen bietet Hochbegabt daher auch eine Auswahl persönlich gehaltener Schilderungen von Eltern, die über Entwicklung und Eigenarten ihrer hochbegabten Kinder sowie über Lösungsansätze bei Problemen berichten. Neben der wissenschaftlichen Perspektive auf das Thema steht so auch eine aus dem Alltag gegriffene, die in ihrer Unmittelbarkeit ansprechend wirkt. Zentrale Aspekte – wie etwa typische Anzeichen von Hochbegabung, Merkmale verschiedener Lernstile oder unterschiedliche psychologische Intelligenzmodelle – sind als Grafiken, Tabellen und Stichpunktlisten übersichtlich hervorgehoben und kommen so allen entgegen, die sich nur einen raschen Einblick verschaffen wollen, ohne das komplette Buch zu lesen.
Doch die Lektüre lohnt sich sehr. Deutlich wird dabei vor allem, dass es den einen idealen Ansatz, der bei allen Hochbegabten weiterhilft, nicht gibt. Mag für Kinder, die vor allem unter schulischer Unterforderung leiden, das Überspringen einer Klasse oder der Wechsel auf eine spezielle Hochbegabtenschule das Richtige sein, ist anderen damit gerade nicht gedient. Insbesondere die Tatsache, dass die emotionale und die intellektuelle Entwicklung oft asynchron verlaufen und auch deshalb akademischer Erfolg und das glückliche Einfügen in eine Gemeinschaft nicht immer Hand in Hand gehen, wird von Kyed dabei immer wieder hervorgehoben. Zugleich warnt er in diesem Zusammenhang auch vor Fehldiagnosen: Psychische Störungen können zwar bei Hochbegabten auftreten wie bei jedem anderen Menschen, aber manches, was in anderem Kontext ein Symptom z.B. für eine klinische Depression wäre, kann bei ihnen auch eine normale, mithin gesunde, Reaktion auf Schwierigkeiten mit dem Umfeld sein (wie z.B. wenig hilfsbereite Lehrkräfte oder Mobbing durch Klassenkameraden). Kyed wirbt daher dafür, in jedem Einzelfall mit Aufmerksamkeit und Verständnis die individuelle Situation zu betrachten und flexibel zu reagieren.
Trotz aller guten Ansätze, die hier schon greifbar werden, räumt Kyed in seinem Nachwort selbst ein, dass in der Forschung wie in der Praxis noch viel zu tun bleibt. Dennoch ist Hochbegabt zweifelsohne einer der derzeit besten Zugänge zum Phänomen Hochbegabung, ob nun für die im Untertitel hervorgehobenen Eltern, für Menschen, die mit hochbegabten Kindern und Jugendlichen arbeiten, oder für diejenigen Erwachsenen, die ihr jüngeres Ich in den Beschreibungen des Buchs wiederfinden und mit seiner Hilfe vielleicht lernen, sich selbst ein wenig besser zu verstehen.

Ole Kyed: Hochbegabt. Der Ratgeber für Eltern. Freiburg im Breisgau, Herder, 2018, 302 Seiten.
ISBN: 978-3451600500


Genre: Sachbuch allgemein