Während Medizin im Sinne einer Versorgung von Kranken und Verletzten schon seit den Anfängen der Menschheit existiert, gehört das alte Griechenland zu den ersten Kulturen, für die neben anderen Ansätzen auch das Bemühen um eine naturwissenschaftliche Herangehensweise an die Heilkunde nachgewiesen ist. Ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. entstanden Schriften, die Leiden und ihre Behandlung ohne den Rückgriff auf göttliches Einwirken zu erklären versuchten – eine Entwicklung, die dem bekannten Althistoriker Robin Lane Fox als Die Entdeckung der Medizin (im englischen Original gar The Invention of Medicine) im heutigen Sinne erscheint. Viele der entsprechenden Werke werden in der Forschung zum sogenannten Corpus Hippocraticum zusammengefasst, das in der Antike dem berühmten Arzt Hippokrates zugeschrieben wurde, aber, wie man heute weiß, von unterschiedlichen Autoren stammt. Zwei Texte daraus – das erste und dritte der sogenannten „Epidemischen Bücher“ – schreibt Lane Fox allerdings tatsächlich Hippokrates selbst zu und stellt sie ins Zentrum seines Buchs über die griechische Medizin.
Der Arzt, der die beiden epidemischen Bücher verfasste, hielt sich drei Jahre lang auf der Insel Thasos und danach im auf dem nahen Festland gelegenen Abdera auf und hinterließ eine Sammlung von Fallgeschichten namentlich genannter Patienten, deren Symptome er genau beobachtet und auch mit äußerlichen Faktoren – wie etwa dem Wetter oder der bisherigen Lebensweise der Erkrankten – in Verbindung zu bringen versucht. In seinen Aufzeichnungen stehen nicht so sehr Therapieansätze im Vordergrund wie die Schilderungen von Krankheitsverläufen, so dass man davon ausgehen kann, dass seine Forschungsergebnisse für andere Ärzte – vermutlich seine Schüler – als Handreichung zu Diagnose und Prognose dienen sollten. Manche Krankheiten sind so exakt beschrieben, dass man sie problemlos mit noch heute bekannten wie Mumps, Malaria oder Krebs identifizieren kann, obwohl man im 5. Jahrhundert v. Chr. die Ursachen oft noch nicht kannte (oder aus heutiger Sicht falsche Vermutungen darüber anstellte). Auch psychische Leiden tauchen unter den Fällen auf (so hatte z. B. ein junger Mann eine Angststörung).
Das Gefühl unmittelbarer Nähe zur Bevölkerung einer altgriechischen Stadt, das die Erörterung dieser Fallschilderungen erzeugt, ist sicher eine der großen Stärken des Buchs. Gelungen ist auch die Einordnung der epidemischen Bücher in den Kontext der Entwicklung der griechischen Medizin, über die in der Frühzeit zunächst nur archäologische Funde und literarische Texte Auskunft geben (wie etwa die homerischen Epen, deren Helden es oft mit Kampfwunden aller Art, aber auch mit einer von Apollo gesandten Seuche zu tun bekommen). Recht interessant sind auch Erwägungen, ob etwa der Historiker Thukydides die hippokratischen Schriften gekannt und an ihnen nicht nur sein medizinisches Verständnis, sondern auch seinen Blick auf die Welt allgemein geschult haben könnte.
So eindrucksvoll die Darstellung insgesamt ist, lässt sich ein Problem an ihr allerdings nicht leugnen: Um die Epidemischen Bücher 1 und 3 Hippokrates selbst zuschreiben zu können, muss Lane Fox sie auf die Zeit um 470 v. Chr. und damit mehrere Jahrzehnte früher als gemeinhin üblich datieren. Zu dem Zweck muss er aber auch inschriftliche Erwähnungen von Amtsträgern aus Thasos und Abdera, deren Namen als die von Patienten in den Epidemischen Büchern wiederkehren, vordatieren.
Im Prinzip ist das sicher erwägenswert, aber die Argumente, die er für seine Datierungen findet, sind leider nicht in allen Punkten überzeugend. Wenn er z. B. die Entstehungszeit eines (heute verlorenen) Gemäldes des thasischen Malers Polygnotos davon abhängig machen möchte, dass die darauf dargestellte Elpinike im traditionell dafür angenommenen Jahr 463 v. Chr. sicher schon zu alt und unattraktiv gewesen sei, um als Modell zu dienen, so dass man das Werk auf spätestens 470 v. Chr. datieren müsse, weiß man nicht recht, ob man darüber lachen oder den Kopf schütteln soll. Auf alle Fälle erwartet man von einem renommierten Historiker eigentlich Besseres als solche fragwürdigen Spekulationen.
Lesenswert bleibt Die Entdeckung der Medizin dennoch, gerade auch dank der lebendigen Einblicke in den Alltag einer griechischen Polis, die die quellennahe Darstellung immer wieder ermöglicht. Wer nicht vergisst, einzelne Behauptungen kritisch zu hinterfragen, kann daher durchaus einiges aus der Lektüre mitnehmen.
Robin Lane Fox: Die Entdeckung der Medizin. Eine Kulturgeschichte von Homer bis Hippokrates. Stuttgart, Klett-Cotta, 2021, 448 Seiten.
ISBN: 978-3-608-96479-0