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Die Seltsamen

Durch das jähe Aufklaffen eines Portals zwischen Erde und Anderswelt sind zahlreiche Feenwesen ins England der Industrialisierung gelangt und in die dortige Gesellschaft zwangsintegriert worden. Noch Jahrzehnte später werden sie ausgegrenzt und benachteiligt. Besonders schwer haben es die titelgebenden Seltsamen, Mischlingskinder aus Verbindungen zwischen Menschen und Feen, die bei beiden Seiten nicht wohlgelitten sind. Dementsprechend düster und beschränkt verläuft die Kindheit des Jungen Bartholomew, der mit Mutter und Schwester in einem Elendsviertel von Bath haust und bessere Zeiten herbeisehnt. Bald drohen ihm und seiner Schwester Hettie aber noch ganz andere Gefahren als Vorurteile und Lynchjustiz: Es kommt zu einer Mordserie an Mischlingskindern, und alles deutet darauf hin, dass Bartholomew oder Hettie das nächste Opfer werden könnte. Die blutigen Vorgänge beschäftigen bald sogar den Staatsrat und damit den glücklosen Politiker Arthur Jelliby, dem auffällt, dass sich ausgerechnet der Justizminister höchst verdächtig verhält: John Lickerisch, der erste Feenbürtige in einem hohen Staatsamt …
Es ist vor allem die bunte Welt aus viktorianischem Elend, Feenmagie, Steampunkgerätschaften und Horrorelementen, aus der Die Seltsamen ihren Reiz gewinnen. Stefan Bachmann schöpft aus einer Märchen- und Sagentradition, die Feen, Elfen und Kobolde als bedrohliche und amoralische Wesen schildert, und bettet sie gekonnt in die Schattenseiten des 19. Jahrhunderts ein. Während er selbst vor allem Charles Dickens und C. S. Lewis als schriftstellerische Vorbilder nennt, könnte man auch den Eindruck gewinnen, hier hätten sich Susanna Clarke und Joan Aiken zusammengetan, um einen temporeichen Jugendroman in einem vor unheimlichen Phänomenen überbordenden England anzusiedeln, sich dabei aber leider für einen etwas schlichten und oberflächlichen Plot entschieden.
Die fabulierfreudige Fülle an historischen und literarischen Versatzstücken, Märchenmotiven und eigenen Einfällen täuscht nämlich auf den ersten Blick darüber hinweg, dass die Handlung extrem geradlinig gestaltet ist und die Protagonisten selbst für die Verhältnisse eines Jugendbuchs arg naiv handeln. Die beiden Erzählstränge um Bartholomew einerseits und Arthur Jelliby andererseits greifen sehr glatt ineinander, und die Nebenfiguren dürfen zwar auf von den Helden oder Schurken angestoßene Geschehnisse reagieren, entwickeln aber nur in den seltensten Fällen ein Eigenleben. Insbesondere die weiblichen Gestalten wie Hettie bleiben merkwürdig passiv. Ein paar Umwege, falsche Fährten und überraschende Wendungen hätten vielleicht etwas mehr Spannung und Tiefgang erzeugen können. Wie man die Handlungsführung empfindet, ist aber zugegebenermaßen Geschmackssache, und so wird es sicher auch Leser geben, die gerade an dem simplen und schnörkellosen Aufbau Gefallen finden.
Nachdenklicher stimmt hingegen eine unterschwellig mitschwingende Tendenz des Romans. Die Feen, die nach langer Ausbeutung und Unterdrückung endlich politischen Einfluss erlangen, aber weiter mit Diskriminierung zu kämpfen haben, lassen sich allzu leicht als Chiffre für reale minderprivilegierte Bevölkerungsgruppen verstehen. In diesem Kontext ist es nicht die glücklichste Entscheidung, dass sich nicht nur der erste erfolgreiche Feenpolitiker als skrupelloser Schurke erweist, sondern auch noch in der Quasi-Ritualmordlegende, die unter Menschen über den Umgang der Feen mit Mischlingen kursiert, ein Fünkchen Wahrheit steckt. In einem Roman mit mehr Nebenlinien und breiter gefächertem Personal hätte sich vielleicht eine differenziertere Darstellung erreichen lassen. So aber sind die Implikationen unschön, und man kann eigentlich nur hoffen, dass Bachmann in diesem Punkt keine Analogie zur Wirklichkeit beabsichtigt hat.
Sprachlich und stilistisch hingegen ist das Erstlingswerk des jungen Autors überwiegend gelungen, auch wenn er Lautmalereien – klonk! – etwas sparsamer einsetzen könnte. Hannes Riffels Übersetzung liest sich flüssig und ist liebevoll gestaltet, allerdings beim Umgang mit sprechenden Namen etwas inkonsequent, da diese nur teilweise eingedeutscht werden. So stehen die „Krähengasse“ und die „Ofenrohrstraße“ neben „Nonsuch House“. Hier wäre eine Entscheidung für ein einheitliches Vorgehen begrüßenswert gewesen.
Alles in allem bleibt man daher nach der Lektüre mit gemischten Gefühlen zurück. Doch Stefan Bachmann kann unzweifelhaft unterhaltsam schreiben, und es wäre ihm zu wünschen, dass er bei späteren Werken seinem durchaus beeindruckenden Weltenbau auch einen anspruchsvolleren Inhalt gegenüberzustellen weiß. Ob sich hier im Nachfolgeband Die Wedernoch schon etwas zum Positiven geändert hat, wäre vielleicht einen Leseversuch wert.

Stefan Bachmann: Die Seltsamen. Zürich, Diogenes, 2015 (Taschenbuchausgabe; gebundene Ausgabe 2014), 367 Seiten.
ISBN: 9783257243314


Genre: Roman