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Europa. Die ersten 100 Millionen Jahre

Europa als eigener Kontinent entstand vor etwa 100 Millionen Jahren, zunächst als reine Ansammlung von Inseln. Welchen Verlauf die Naturgeschichte hier seitdem genommen hat und wie sie erforscht worden ist, zeichnet der Biologe Tim Flannery in Europa. Die ersten 100 Millionen Jahre bildgewaltig, anspielungsreich und in munterem Ton für ein allgemeines Publikum nach. Das könnte unterhaltsam und auch inhaltlich packend sein. Allerdings ist mir selten ein Sachbuch begegnet, das gleichzeitig so gut geschrieben ist und doch ein derart profundes Unbehagen angesichts des Umgangs des Autors mit seinem Gegenstand weckt.

Das Positive vorab: In recht kurzen und leicht verständlichen Kapiteln erfährt man hier vieles über die europäische Natur und insbesondere Fauna, von den Dinosauriern über ausgestorbene Säugetiere wie Mammuts oder Auerochsen bis hin zu invasiven Arten in der Neuzeit. Deutlich wird auch, wie sehr der menschliche Einfluss von der Steinzeit an die Umwelt prägte und welche Gefahren in heutiger Zeit von Klimawandel und industrieller Landwirtschaft ausgehen. Ähnlich wie Madelaine Böhme in ihrem empfehlenswerteren Buch Wie wir Menschen wurden greift Flannery mehrfach zum Stilmittel der imaginierten Zeitreise, um urzeitliche Landschaften heraufzubeschwören. Wissenschaftliche Nüchternheit dagegen ist nicht seine Stärke. Oft wertet er sehr subjektiv (z.B., wenn er sich ausführlich darüber verbreitet, wie wenig er Schweine mag und wie schlecht ihm daher auch bestimmte urzeitliche Exemplare gefallen).

Spätestens ab der Stelle, an der der moderne Mensch auf den Plan tritt, wird es insgesamt noch sonderbarer, und das nicht nur, weil sich hier und da sachliche Fehler einschleichen (als Mediävistin liest man etwa mit Befremden, dass die Langobarden sich schon „im Jahr 600 vor Beginn unserer Zeitrechnung“ in Italien aufhielten [S. 210] oder dass die Europäer angeblich nach einem finsteren Mittelalter erst im 15. Jahrhundert dank antiker Texte wieder erkannten, „dass die Welt rund“ ist [S. 275] – ein alter Forschungsirrtum, den man eigentlich längst überwunden glaubt).

Vielmehr ist von den Menschen, die sich Europa ausbreiten, offensichtlich insgesamt nicht viel zu halten: Die durch Genuntersuchungen belegte Vermischung von modernen Menschen und Neandertalern wird nicht als friedlicher Kontakt geschildert, sondern in der Form, dass Menschenmänner Neandertalermänner ermorden und die Neandertalerfrauen zum Austragen ihrer Kinder zwingen. Auch die steinzeitliche Kunst ist für Flannery von männlichen Künstlern dominiert, die allerdings in Wahrheit gar keine Künstler, sondern gelangweilte Teenager sind, die bis auf blutige Jagden und nackte Frauen nicht viel im Kopf haben und daher unbeholfene Graffiti mit diesen Sujets schaffen. Den alten Römern dagegen wird weniger der Raubbau an der Natur vorgeworfen, den sie teilweise zweifelsohne betrieben, als die Tatsache, dass sie keine neuen Tierarten domestiziert hätten – für Flannery offenbar ein Versäumnis, das mehrfach betont werden muss.

Vollends seltsam mutet schließlich Flannerys Schwerpunktsetzung in der Schilderung der Forschungsgeschichte an. Denn wenn an den Wissenschaftlerschicksalen, die er vorstellt, eines auffällt, dann, dass viele von ihnen mit einem Selbstmord enden, bei dem oft auch noch die Methode beschrieben und zum Teil mit eher zynisch anmutenden Überlegungen kommentiert wird. Der Eindruck einer unguten Begeisterung des Autors für das Thema drängt sich daher auf.

Verglichen damit wirken Flannerys Überlegungen, man solle doch in Europa Elefanten und Löwen ansiedeln, da es sie dort vor langer Zeit einmal gegeben habe und man den Erhalt dieser Tierarten nicht allein den Afrikanern zumuten dürfe, geradezu harmlos, wenn auch etwas bizarr. Ob man seine am Ende entwickelte Zukunftsvision eines Europa, in dem die Bevölkerung und die in Gewächshäuser verlagerte Landwirtschaft sich auf Städte konzentrieren, während die umliegende Wildnis mit ihren Kreuzungen aus Mammut und Elefant zur Touristenattraktion geworden ist, für eine Utopie oder doch eher für ein Schreckensszenario hält, ist wohl Geschmackssache. Nicht nur deshalb ist Europa ein Buch, das einen am Ende mehr oder minder ratlos zurücklässt, obwohl es durchaus einige interessante Informationen zu bieten hat.

Tim Flannery: Europa. Die ersten 100 Millionen Jahre. Berlin, Insel (Suhrkamp), 2019, 384 Seiten.
ISBN: 978-3-458-17822-4


Genre: Geschichte, Sachbuch allgemein