Archive

Mann vom Meer

Das Meer spielt nicht nur in den Werken Thomas Manns eine große Rolle, sondern war für den Schriftsteller auch sein Leben lang ein immer wieder gern aufgesuchter Ort von einer gewissen Ambivalenz: Stand es für ihn einerseits, begonnen mit der schon in seiner Kindheit kennengelernten Ostsee, für Ruhe, Erholung und Entspannung fern aller Zwänge, war es ihm andererseits auch ein Bild für dunkle und zerstörerische Strömungen, ob nun in der eigenen Psyche oder auf politischer und gesellschaftlicher Ebene.

So ist es ein komplexer Gegenstand, dessen sich Volker Weidermann in seinem herrlich mehrdeutig (oder vielleicht eher „meerdeutig“?) betitelten Mann vom Meer nicht ohne Anspruch, aber doch mit leichter Hand annimmt. Mit der Beziehung zum Meer als rotem Faden bietet er eine schlaglichtartige Biographie und eine zitatreiche Werkschau Thomas Manns, allerdings ergänzt um biographische Grundzüge von Manns in ihren ersten Lebensjahren an der brasilianischen Küste aufgewachsenen Mutter Julia da Silva-Bruhns und seiner als Seerechtsexpertin bekannt gewordenen Tochter Elisabeth Mann Borgese, deren jeweiliger Bezug zum Meer von dem des berühmten Sohnes bzw. Vaters für Weidermann nicht zu trennen ist.

Diese Entscheidung hat ihren tieferen Sinn, denn die Auseinandersetzung mit dem Meer ist bei Mann – literarisch wie real – immer auch mit dem Ringen mit und oft zugleich Scheitern an familiären wie gesellschaftlichen Erwartungen verknüpft. Ironischerweise ist in der Familie Mann die Freiheitssuche am Strand und im Wasser von einem über die Generationen immer wieder erlittenen und doch in unterschiedlicher Weise gnadenlos weitergegebenen Anpassungsdruck nicht zu trennen. Besonders in Thomas Manns Fall nimmt es wunder, dass er es zwar selbst als quälend empfand, Neigungen wie die seinerzeit noch verpönte Homosexualität unterdrücken zu müssen, und sich, etwa in den Buddenbrooks oder in Tonio Kröger, als hellsichtiger Schilderer der geistigen Enge einer individuellen Wünschen gegenüber kaum aufgeschlossenen städtischen Oberschicht zeigt, es aber seinen eigenen Kindern auch nicht unbedingt leicht machte, so dass selbst seine erklärte Lieblingstochter Elisabeth in der Angst leben musste, ihn zu enttäuschen.

Eingedenk dessen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier neben großer literarischer Schönheit oft ebenso große menschliche Hässlichkeit steht, auch wenn Mann auf einigen Gebieten in späteren Jahren noch umschwenkte (so beispielsweise in politischer Hinsicht, als er sich gegen das Naziregime wandte). Manns Weg, der von der Ostsee über Nordsee,  Mittelmeer und Atlantik bis ins Exil am Pazifik führt und mit dem Bodensee, dem „Schwäbischen Meer“, auch noch einen meerartigen Binnensee von einiger Bedeutung zu bieten hat, ist daher auch einer, der immer wieder Untiefen bereithält (und ob man mit Weidermanns Einschätzung mitgehen möchte, dass zumindest in der Literatur das Düstere und Tragische stets das Wahrere und daher dem Idyllischen überlegen sei, ist wohl in hohem Maße eine Frage des eigenen Temperaments und Charakters).

Die selbst phasenweise romanhaft erzählte Synthese aus Biographischem, Literarischem und klug Beobachtetem ist aber insgesamt gelungen, und gerade, wenn man selbst schon einige von Thomas Manns Texten gelesen hat, macht es Vergnügen, sie hier noch einmal ganz neu aus Weidermanns Sicht unter dem Meeresaspekt mitzubetrachten.

Volker Weidermann: Mann vom Meer. Thomas Mann und die Liebe seines Lebens. 2. Aufl. Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2023, 240 Seiten.
ISBN: 978-3-4620-0231-7

 

 


Genre: Biographie, Kunst und Kultur

Ostende 1936 – Sommer der Freundschaft

Judenverfolgung, Bücherverbrennungen und Berufsverbote zwangen in der Nazizeit manch einen deutschen oder österreichischen Schriftsteller, ins Ausland zu fliehen und sich dort auf eine ungewisse Zukunft einzulassen, die nicht immer eine Fortsetzung der bisherigen Karriere zuließ: Eingeschränkte Veröffentlichungsmöglichkeiten, finanzielle Schwierigkeiten und nicht zuletzt das psychische Leid unter der Situation machten vielen schwer zu schaffen.
Als einen Kristallisationspunkt dieses Literatenexils hat Volker Weidermann das belgische Ostende ausgemacht, wo im Sommer 1936 Intellektuelle, politische Agitatoren und Künstler zusammenkamen und einen scheinbar idyllischen Sommerurlaub verbrachten. Weidermann komponiert aus diesen Sachinformationen (bei denen man gerade bei den zahlreichen Zitaten aus den Werken seiner Protagonisten das Fehlen eines Quellenverzeichnisses sehr bedauert) einen fast essayistisch anmutenden Bilderbogen, in dessen Zentrum die ungleichen Freunde Stefan Zweig und Joseph Roth stehen. Die Herkunft aus dem einstigen Habsburgerreich, den jüdischen Glauben und den Schriftstellerberuf haben beide miteinander gemein, doch sonst scheint es wenig zu geben, was den wohlhabenden, idealistischen Zweig und den von Geldnöten ebenso wie von seiner Trunksucht und einer Neigung zu zerstörerischen Liebesbeziehungen geplagten Roth verbindet. Um ihre schwierige und letztlich zum Scheitern verdammte Freundschaft herum entspinnt sich ein bunter Reigen: Badevergnügen, Treffen in Cafés und Hotels, kreativer Austausch und Liebeserwachen bestimmen das Bild des im Untertitel heraufbeschworenen Sommers der Freundschaft.
Doch unter dieser angenehmen Oberfläche schwingt stets eine der spezifischen Situation der geflohenen Künstler geschuldete Weltuntergangsstimmung mit, die nicht nur in der Tatsache ihren Ausdruck findet, dass die literarische Würdigung, die Ostende selbst durch einen der Exilschriftsteller, Hermann Kesten, erfährt, eine düstere Geschichte um Vergewaltigung, Mord und Justizirrtum ist.
Geradezu leitmotivisch taucht im Hintergrund auch immer wieder James Ensor auf, der Stefan Zweig von seinem ersten Ostende-Aufenthalt vor dem Ersten Weltkrieg an faszinierte, und es mutet wie finstere Ironie an, dass es inmitten all der Heimatlosen ausgerechnet dem an verstörenden, häufig auf den Tod anspielenden Motiven interessierten Maler bestimmt ist, samt seinem makaber dekorierten Haus alle Fährnisse und Kriegszerstörungen unbeschadet zu überstehen und in hohem Alter geachtet in seiner Geburtsstadt zu sterben.
So viel Glück ist den meisten der Entwurzelten nicht beschieden, und man kann nur bedauern, wie viele der hier angerissenen Biographien im Selbstmord endeten. Prominentestes Beispiel ist auch hier wieder Stefan Zweig, der sich 1942 in Brasilien das Leben nahm, obwohl es ihm anders als vielen der Übrigen zumindest materiell bis zuletzt an nichts mangelte. Gerade sein Schicksal zeigt, in welchem Maße das Exil nicht nur eine Entfernung aus der geographischen, sondern vor allem auch einen Verlust der geistigen Heimat bedeutete, jenes alten Europa, das schon der Erste Weltkrieg in seinen Grundfesten erschüttert hatte. Dass Schattenseiten dieser früheren Epoche hier größtenteils unerwähnt bleiben, ist angesichts der Konzentration auf die Perspektive der Leidtragenden der großen Veränderungen nur zu verständlich.
Auf jeden Fall wird in Weidermanns Schilderung überdeutlich, dass die Verwerfungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts neben unzähligen Verlusten an Menschenleben und millionenfachem Elend auch einen tiefgreifenden kulturellen Wandel mit sich brachten und ein Anknüpfen an alte Kontinuitäten in der Nachkriegszeit oft unmöglich war. Angesichts der in jüngster Zeit wieder zu beobachtenden Radikalisierung verschiedener politischer Tendenzen lässt Ostende 1936 – Sommer der Freundschaft sich also auch als Mahnung lesen, zu bedenken, dass dumpfe Ideologien nicht erst dann Schaden anrichten, wenn Menschen physisch bedroht sind: Ihre Auswirkungen auf Kunst und Kultur können bereits vor den schlimmsten Gewaltexzessen verheerend sein.
So legt man das Buch nicht nur beeindruckt von seiner stilistischen Schönheit und gekonnten Zuspitzung, sondern auch betroffen über seinen Inhalt und dessen Aktualität aus der Hand.

Volker Weidermann: Ostende 1936 – Sommer der Freundschaft. Kiepenheuer & Witsch, 10. Aufl. 2014, 157 Seiten.
ISBN: 978-3462046007


Genre: Kunst und Kultur