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Außenseiter der Gesellschaft

Der Medizinstudent Christopher Hazzard, der in eher einfachen Verhältnissen auf dem Land aufgewachsen ist, hat es in London nicht leicht: Trotz hervorragender fachlicher Leistungen findet er bei den meisten Professoren und Kommilitonen keine Anerkennung, weil er in ihren Augen der falschen Gesellschaftsschicht entstammt. So setzen sich die Hänseleien und Schikanen, denen er schon als gehbehindertes, nachdenkliches Kind ständig ausgesetzt war, im Erwachsenenalter ungebrochen fort. Doch während er unter schwierigsten Bedingungen in einem Armenviertel auf sein Ziel hinarbeitet, ein anerkannter Arzt und Forscher zu werden, macht er es auch sich selbst und seinem Umfeld nicht leicht. Durch seine Verbissenheit ruiniert er fast seine Gesundheit, und dass seine Nachbarin, die Büroangestellte Ruth Avery, mehr als nur freundschaftliche Gefühle für ihn hegt, übersieht er viel zu lange …

Warwick Deepings Außenseiter der Gesellschaft (im Original: Roper’s Row) ist zuerst 1929 erschienen und nicht in jeder Hinsicht gut gealtert. Die doch sehr vorsintflutlichen Geschlechterrollenbildern verhafteten Aussagen über das Wesen von Mann und Frau, die immer wieder durchscheinende Demokratieskepsis und einige an Eugenik gemahnende, ausgerechnet von einem selbst behinderten Protagonisten geäußerte Gedankengänge befremden bis verstören aus heutiger Sicht. Auch der Übersetzung von Curt Thesing merkt man an, dass sie schon einige Jahrzehnte alt ist, wenn etwa die für den Roman im Englischen titelgebende Roper’s Row als „Ropers Gasse“ halb ins Deutsche übertragen erscheint. Das Buch lässt sich daher nur als Produkt seiner Entstehungsepoche und nicht als zeitlos lesen.

All das ist allerdings kein Grund, ganz auf die Lektüre zu verzichten, denn wenn man den historischen Kontext im Hinterkopf behält und sich dennoch auf das Buch einlässt, wird man gerade in der etwas stärkeren ersten Hälfte auch mit eindringlichen Natur- und Stadtschilderungen, sorgsam und nicht überhastet entwickelten Figuren und einer bis heute nicht überholten Darstellung der Mechanismen, die jemanden zum Außenseiter und Mobbingopfer machen können, belohnt. Deeping stellt dabei ein feines Gespür für die Funktionsweise sozialer Milieus unter Beweis. Das Bemühen der vermeintlich besseren Gesellschaft, sich gegen unerwünschte Aufsteiger abzuschotten und Beziehungen mehr Gewicht zuzubilligen als Fleiß und Wissen, ist nicht das einzige Problem, dem sich Christopher gegenübersieht. Auch die Dorfgemeinschaft reagiert mit Ablehnung und Missgunst, wenn einer der Ihren durch die vermeintlich falschen Interessen und Bildungsdrang aus der vorgezeichneten Lebensweise ausbricht, und in der städtischen Unterschicht gibt es keine Solidarität, die den teilweise um seine Existenz fürchtenden jungen Mediziner mit einbezieht, sondern eher den Versuch, ihn auszunutzen. Zugehörigkeit und Unterstützung findet er zunächst nur bei seiner Mutter, später bei Ruth, begeht aber selbst den Fehler, die Aufopferung der beiden als selbstverständlich hinzunehmen – mit tragischen Folgen.

Neben den detailliert geschilderten Figuren nehmen auch manche Orte fast die Rolle von Charakteren ein, insbesondere der geschichtsträchtige Hügel Sisbury Hill nahe bei Christophers Heimatdorf Melfont und das Haus in der kleinen Straße Roper’s Row, das ihm lange Jahre als Unterkunft dient. Wie die Umgebung geradezu mit den handelnden Personen interagiert, ist zweifelsohne eine der großen Stärken des Buchs und kann einen über einige der eingangs aufgezählten Schwächen hinwegtrösten.

Vor allem aber macht Außenseiter der Gesellschaft einem deutlich, was die heute doch oft eher normierte Unterhaltungsliteratur in den letzten Jahrzehnten verloren hat. Die häufigen Perspektivwechsel, das eher gemächliche Erzähltempo und der alles andere als stromlinienförmige Plot würden derzeit wohl kein Lektorat mehr ungeschoren passieren. Hier aber können sie zeigen, dass es mehr als einen Weg gibt, eine Geschichte gelungen zu erzählen, selbst wenn man nicht mit all ihren politischen und philosophischen Aussagen konform gehen mag.

Warwick Deeping: Außenseiter der Gesellschaft. Frankfurt am Main / West-Berlin, Ullstein, 1969, 336 Seiten.


Genre: Roman