Nur wenigen Althistorikern traut man nach der Lektüre ihrer Werke spontan zu, dass sie auch einen packenden Roman schreiben könnten. Werner Dahlheim ist einer von ihnen. Sein zu Recht mehrfach preisgekröntes Buch Die Welt zur Zeit Jesu schildert spannend und sprachgewaltig die Entstehung des Christentums und dessen Ausbreitung im römischen Reich. Die im Titel angesprochene Zeit Jesu ist dabei nicht wörtlich auf die Lebzeiten Jesu begrenzt zu verstehen, auch wenn dessen Werdegang und Wirken – soweit überhaupt zu rekonstruieren – natürlich ebenso beschrieben werden wie die Entstehung des Neuen Testaments. Die historische Erzählung reicht bis in die Spätantike, doch der Blick geht immer wieder auch darüber hinaus auf die Rezeption der Epoche in Mittelalter und Neuzeit. Goethes Zauberlehrling begegnet einem im Laufe der Lektüre deshalb genauso wie Gemälde von El Greco, Caravaggio oder Delacroix.
Dass all diese Künstler auf einen reichen Schatz mythologischer, christlicher und säkularer Überlieferungen aus dem Altertum zurückgreifen konnten, ist nicht zuletzt Rom zu verdanken. Das Imperium vereinte gewaltsam naturräumlich und kulturell sehr heterogene Regionen, die sich jedoch alle dadurch auszeichneten, dass Städte die Zentren des geistigen und religiösen Lebens bildeten, ob nun seit Jahrhunderten, wie im hellenistisch geprägten Osten, oder erst durch Neugründungen im Zuge der Eroberung durch die Römer wie in den nordwestlichen Provinzen. Als für die Entwicklung des Christentums wegweisende Entscheidungen sieht Dahlheim daher zum einen die frühe Gemeindebildung im städtischen Kontext (im Gegensatz zu Gruppen wie etwa den Essenern, die bewusst die Isolation wählten), zum anderen den Entschluss zur Heidenmission, der sich in der Überlieferung vor allem mit dem Namen des Paulus verbindet. Was sonst wohl nur eine mehr oder minder kurzlebige Strömung innerhalb des Judentums geblieben wäre, wurde so für Menschen unterschiedlichster Herkunft attraktiv.
Während die neue Religion sich in ihrem Gottesbild und ihren Jenseitserwartungen beträchtlich von anderen Glaubenssystemen der Antike unterschied, übernahm sie nach und nach viel aus ihrer paganen Umwelt. Dies trifft nicht nur auf philosophische Argumentationsformen, die in die Theologie einflossen, oder auf die an weltlichen Vorbildern orientierte kirchliche Ämterhierarchie zu, sondern auch auf den Bereich des Volks- und Aberglaubens, in dem alte Vorstellungen sich in neuem Gewand als erstaunlich dauerhaft erwiesen. So riefen Amulette, die zuvor den Schutz heidnischer Gottheiten hatten herabflehen sollen, nun z.B. die Jungfrau Maria an, wurden aber nach wie vor in ganz ähnlicher Weise verwendet. Während manch Überkommenes Intoleranz und Fanatismus zum Opfer fiel, wurde anderes so gerade durch die Durchsetzung des Christentums bewahrt.
Neben dem hohen stilistischen Niveau ist es auch dieser differenzierte und vor Pauschalisierungen zurückscheuende Blick auf die Christianisierung des Römischen Reichs, der Werner Dahlheims Buch positiv von anderen Darstellungen der Epoche (wie z.B. Catherine Nixeys The Darkening Age) abhebt. Trotz dieses wohltuenden Verzichts auf Vereinfachungen in der Sache ist Die Welt zur Zeit Jesu durchgängig gut und flüssig zu lesen, durch Abbildungen und Kartenmaterial zusätzlich aufgelockert und, wie eingangs erwähnt, über weite Strecken mitreißend wie ein Roman. Wer wissen möchte, wie die Welt der Antike christlich wurde, kann kaum einen besseren Einstieg als diesen finden.
Werner Dahlheim: Die Welt zur Zeit Jesu. München, C.H. Beck, 2017 (vorliegende Ausgabe; Original 2013), 496 Seiten.
ISBN: 978-3406715075