Hamburg 1838. Die junge Sophie Achtmann entstammt einer zwar alteingesessenen, aber nur in Maßen vermögenden Kaufmannsfamilie und soll nach dem Plan ihres Großvaters, eines gestrengen Patriarchen, durch eine vorteilhafte Ehe dem weiteren Aufstieg des Hauses dienlich sein. Anders als ihre umschwärmte Cousine Konstanze leidet Sophie jedoch unter den an sie gestellten Erwartungen und hat dadurch etwas mit ihren Brüdern Freddy und Conrad gemein, die aus unterschiedlichen Gründen ebenfalls mit dem ihnen vorherbestimmten Leben unglücklich sind. Ablenkung bietet sich den jungen Achtmanns, als Konstanzes Verlobter und seine Familie einen Hausgast aufnehmen: Die geheimnisvolle Comtesse de Chambourg, die aus Hamburg stammt, aber einst nach Frankreich heiratete, ist zurück in der Stadt, und das in Begleitung ihres ebenso jungen wie attraktiven Beichtvaters Abbé de Guisé. Leander, so sein Vorname, freundet sich rasch mit den beiden Brüdern an und kreuzt auch Sophies Weg immer wieder. Aber ist es wirklich bloße Sympathie, die ihn dabei antreibt, oder verfolgt er nicht vielleicht eher ganz eigene und gefährliche Pläne?
Der mit etwas veränderter Aussprache auch als déguisé zu lesende Name „de Guisé“, unter dem Leander zunächst auftritt, verrät es schon: In Anna K. Thomas’ historischem Roman Alsterdiamanten ist nicht jeder das, was er auf den ersten Blick zu sein scheint. In gewisser Weise gilt das auch für den Roman selbst, denn was zunächst recht klassisch als Familiengeschichte um das vermeintlich hässliche Entlein einer Großbürgerfamilie im Kampf mit der einengenden Frauenrolle der Biedermeierzeit beginnt, entpuppt sich nach und nach als dramatischer Racheplot, bei dem es mit Inzest, Suizid, Opiumsucht, psychischem Zusammenbruch und schließlich auch dem großen Hamburger Brand von 1842 durchaus happig zur Sache geht. Manchen zentralen Figuren ergeht es alles andere als gut, und wenn die Handlung nicht auf eine vollständige Tragödie hinausläuft, so nur, weil sich als eine der zentralen Fragen des Buchs letztlich die erweist, ob ein Teufelskreis aus Unrecht, Vergeltung und zerstörten Beziehungen sich unweigerlich immer weiter fortsetzen muss oder ob nicht die Macht der Vergebung und die Bereitschaft, Unverzeihliches zu verzeihen, einen Neuanfang ermöglichen können. Obwohl die Autorin in ihrem Nachwort betont, die Religiosität der Epoche in ihrem Roman bewusst eher vernachlässigt zu haben, hat man also thematisch den Eindruck, dass durchaus ein wenig die christliche Perspektive der Überwindung von schuldhaften Verstrickungen durch (nicht nur romantische) Liebe und vielleicht nicht verdiente, aber notwendige Vergebung mit hineinspielt.
Anna K. Thomas hat erkennbar Freude daran, die Topographie des alten Hamburg mit seinen Kaufmannshäusern, Fleeten, elenden Gängevierteln und prächtigen Sommervillen an der Elbe zu schildern, und im Nebensatz sind immer wieder viele kulturhistorische Details eingeflochten, die den geschichtlichen Hintergrund verlebendigen. Der Stil dagegen ist eher modern, auch mit einigen umgangssprachlichen Wendungen, und liest sich flott weg, während man gespannt verfolgt, wie Sophie und Leander ihren Weg durch eine ihnen nicht immer wohlgesonnene Welt suchen.
Im Anhang findet sich außer einem Überblick über die zurate gezogene Literatur und einer Liste der im Roman auftretenden oder erwähnten historischen Gestalten auch eine Aufstellung der fiktiven Figuren, aber darauf sollte man erst nach der Lektüre des Romans einen Blick werfen, da ein massiver Spoiler in Bezug auf Leanders wahre Identität enthalten ist. Lieber sollte man beim Lesen selbst Stück für Stück herausfinden, was es mit dem vermeintlichen Abbé auf sich hat.
Anna K. Thomas: Alsterdiamanten. Berlin, Anderland Books, 2022, 368 Seiten.
ISBN: 978-3-96977-122-8