Cicero

Über Cicero (106-43 v.Chr.) ist viel geschrieben worden – auch und vor allem, weil er selbst außergewöhnlich viel geschrieben hat. Neben seinen Reden und philosophischen Texten sind auch unzählige seiner Briefe überliefert, so dass wir heute besser über ihn informiert sind als über die meisten anderen Menschen der Römischen Republik. Nicht nur über seine Karriere als Anwalt, seine politische Laufbahn mit allen Höhepunkten und Niederlagen (bis hin zur Verbannung) und über seine Ermordung lassen sich Aussagen treffen, sondern auch über sein Privatleben, von seinen beiden gescheiterten Ehen über das Verhältnis zu seinen Kindern bis hin zu seinen Freundschaften, Vorlieben und Abneigungen. So entsteht das Bild eines Mannes, der sich zwar einerseits durch ein unverhohlenes Geltungsbedürfnis auszeichnete und nach öffentlicher Anerkennung gierte, andererseits aber auch unerwartet tiefgründig, sensibel und humorvoll sein konnte.
Diese Persönlichkeit in all ihren Facetten auf nur gut 170 Seiten einzufangen und in den historischen Kontext einzubetten, erscheint auf den ersten Blick wie eine fast unlösbare Aufgabe. Der Altphilologin Marion Giebel ist das Kunststück dennoch bravourös geglückt, so dass es nicht überrascht, dass ihr Cicero über 30 Jahre nach seinem Erscheinen in einer überarbeiteten Neuauflage noch einmal herausgebracht worden ist. Kenntnisreich stellt sie nicht nur den Lebensweg ihres Protagonisten und sein literarisches Œuvre vor, sondern schlaglichtartig auch die Cicero-Rezeption von der Antike bis in die heutige Zeit. Ihre Lebendigkeit und Unmittelbarkeit gewinnt die Darstellung dabei vor allem aus der Fülle klug ausgewählter Zitate, die überwiegend in der modernen Übersetzung der Verfasserin, in besonders wichtigen Fällen aber auch zweisprachig einschließlich des lateinischen Originals wiedergegeben sind.
So entfaltet sich ein um Cicero als zentrale Person herumkomponiertes knappes Panorama der Geistesgeschichte und politischen Entwicklung der späten Römischen Republik. In ihrer Interpretation der historischen Vorgänge entwickelt Giebel dabei originelle, aber schlüssig begründete Thesen, so z.B. bei ihrer Deutung der Catilinarischen Verschwörung, an der sie Caesar und Crassus aktiver beteiligt sieht, als sonst zumeist angenommen wird.
Ciceros Eintreten für die Hinrichtung prominenter Catilinarier ist sicher einer der dunkelsten Aspekte seines Wirkens. Giebel warnt dennoch davor, diesen drastischen Schritt als Indiz für einen heillos konservativen Cicero zu sehen, der sich mit allen Mitteln an sein politisches Ideal der concordia ordinum – des einträchtigen Zusammenwirkens unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten zum Wohle des Staates – klammerte und sozialreformerischen Tendenzen einen Riegel vorschieben wollte. Vielmehr unterstreicht sie, dass die wahrscheinliche Alternative zum bestehenden System nicht etwa eine gerechtere und freiere Staatsform gewesen wäre, sondern die Dominanz eines machtbewussten Einzelnen, wie sie bald darauf unter Caesar und endgültig unter Augustus durchgesetzt wurde.
Vor diesem Hintergrund erscheint Cicero plötzlich nicht mehr als unkritischer Befürworter einer veralteten Senatsherrschaft, sondern als Kämpfer für den Erhalt einer Republik, die zwar mängelbehaftet, aber immerhin nach den Maßstäben der damaligen Zeit demokratisch war – eine Bewertung, wie sie unter etwas anderer Schwerpunktsetzung auch Wolfgang Schuller in seinem Cicero oder der letzte Kampf um die Republik vorschlägt. Gerade angesichts der heutigen weltpolitischen Situation, in der vielerorts wieder der kurzsichtige Ruf nach einem starken Mann laut wird, der die Verhältnisse ändern soll, ist dieser Aspekt sehr bedenkenswert.
Abgerundet wird das Bändchen durch zahlreiche Abbildungen. Neben einzelnen Schauplätzen von Ciceros Leben und antiken Porträts ist auch die Rezeptionsgeschichte reich vertreten, wobei manch eine ahistorische Cicero-Darstellung aus Mittelalter und früher Neuzeit einen zum Schmunzeln bringen kann (insbesondere der sich den langen Bart raufende Cicero aus dem Chorgestühl des Ulmer Münsters).
Doch Cicero ist eben nicht nur spannend und unterhaltsam geschrieben, sondern auch voller Denkanstöße, und so kann die Lektüre uneingeschränkt allen empfohlen werden, die einen ersten Zugang zu dem berühmten Redner suchen oder vorhandene Kenntnisse auffrischen wollen.

Marion Giebel: Cicero. Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, überarbeitete Neuausgabe 2013 (Original: 1977), 174 Seiten.
ISBN: 9783499507274


Genre: Biographie