Der Name Mykene steht nicht nur für die bunte Sagenwelt rund um Agamemnon und seine mörderisch veranlagte Familie, sondern auch für eine ganze Epoche der altgriechischen Geschichte (ca. 1650 – 1150 v. Chr.). Die Schriftquellen sind spärlich, beschränken sie sich doch auf dürre Verwaltungsnotizen in der erst in den 1950er Jahren entzifferten Linear-B-Schrift. Umso üppiger sind die archäologischen Funde, die von den berühmten Schachtgräbern von Mykene aus der Frühzeit der Kultur bis zu den monumentalen Ruinen der erst später errichteten Paläste reichen.
Ausgehend von diesen seit Heinrich Schliemann im 19. Jahrhundert immer weiter ergrabenen und erforschten Überresten rekonstruieren die renommierten Archäologen Sigrid Deger-Jalkotzy und Dieter Hertel in Das mykenische Griechenland eine Geschichte , die mit der Einwanderung indogermanischsprachiger Gruppen begann und zunächst zur Errichtung einer Art oligarchischen Herrschaft angesehener Kriegergeschlechter führte. Wichtige Marksteine des weiteren Verlaufs sind die mykenische Eroberung des bis dahin minoisch geprägten Kreta (wohl um 1450 v.Chr.), die zur Entwicklung eines der frühgriechischen Sprache angepassten Schriftsystems nach minoischem Vorbild führte, und die Ausbildung eines Königtums, in dem neben dem wanax als König auch der lawagetas, eine Art oberster Heerführer, eine entscheidende Rolle spielte. Um 1200 wurden jedoch die von dieser Herrschaftsform geprägten Paläste (z.B. in Mykene, Pylos und Tiryns) durch Brandkatastrophen zerstört. Die Ursachen dafür sind unklar – von Fremdeinflüssen über innere Unruhen bis hin zu Naturkatastrophen wurde in der Forschung schon vieles diskutiert. Auffällig ist jedoch, dass die mykenische Kultur an sich das Ende der Paläste überdauerte und, wenngleich auf weniger komplexem Niveau, noch über ein Jahrhundert lang bestand, bis mit der Eisenzeit andere Verhältnisse anbrachen.
Reich illustriert mit Kartenmaterial, Grundrissplänen der Paläste und Abbildungen archäologischer Fundstücke zeichnet Das mykenische Griechenland diese Entwicklung anschaulich nach und informiert zudem über wirtschaftliche und soziale Verhältnisse, Beziehungen zu anderen Kulturräumen und vieles mehr.
Dabei weist das Buch allerdings eine Besonderheit auf, die man bei der Beurteilung nicht außer Acht lassen sollte: Die Autoren hatten nicht etwa von Anfang an eine Zusammenarbeit geplant. Vielmehr steuerte Hertel ein einziges, aber nicht unwichtiges Kapitel über die zweite Phase der mykenischen Palastzeit bei, das Deger-Jalkotzy krankheitsbedingt nicht verfassen konnte. Auch das wäre noch nicht weiter auffällig, wenn beide nicht in einigen nicht unwichtigen Punkten entgegengesetzter Ansicht wären (so z.B. bei der Lokalisierung des in hethitischen Texten erwähnten Aḫḫijawa, das Deger-Jalkotzy als Bezeichnung für das mykenische Griechenland allgemein wertet, während Hertel darin einen kleinasiatischen Staat sieht, in dem unter anderem auch Griechen gelebt haben mögen, oder bei der Beurteilung der Träger des Titels qasireu bzw. basileus, denen Deger-Jalkotzy eine höhere gesellschaftliche Stellung zubilligt, als Hertel es tut). So wirkt Hertels Beitrag letztlich in gewissem Maße wie ein – wenn auch sehr lesenswerter – Fremdkörper im Text, obwohl er durch seine exakte Schilderung der Palastbauten und ihrer möglichen Funktion besticht. Seine Deutungen sind dabei weniger zurückhaltend als die Deger-Jalkotzys und stellenweise spekulativ (so ist es z.B. natürlich eine verlockende Interpretation, wenn er von den jeweils in den mykenischen Palästen vorhandenen zwei Thronräumen einen dem wanax, den anderen dem lawagetas zuweist, doch wird dabei m.E. zu wenig berücksichtigt, dass ein und dieselbe Person nicht unbedingt auf die Nutzung eines speziellen Raums beschränkt gewesen sein muss; denkbar wäre auch, dass der wanax in verschiedenen sozialen, kultischen und administrativen Kontexten unterschiedliche Räume nutzte, in denen seine besondere Stellung auf ähnliche Art hervorgehoben war).
Eine Gesamtbewertung fällt daher schwerer als bei Monographien, die komplett aus einem Guss sind. Wenn man mit dem Phänomen einer quasi buchintern ausgetragenen Forschungsdebatte allerdings leben kann, lohnt sich die Lektüre, die eine solide und kenntnisreiche Einführung in eine spannende und in vielen Zügen noch immer rätselhafte Zeit bietet.
Sigrid Deger-Jalkotzy, Dieter Hertel: Das mykenische Griechenland. Geschichte, Kultur, Stätten. München, C. H. Beck, 2018, 144 Seiten.
ISBN: 9783406727269