Kaum ein Volk der Spätantike hat bis heute einen solchen Bekanntheitsgrad und einen derart furchterregenden Ruf wie die Hunnen. Umso überraschender mutet es an, dass über das Reitervolk in Europa – so der Untertitel von Michael Schmauders spannendem Bildband – eigentlich wenig Gesichertes bekannt ist. Eine eindeutige ethnische oder sprachliche Zuordnung ist nicht möglich, die oft postulierte Identität mit den aus der chinesischen Überlieferung bekannten Xiongnu nicht letztgültig zu belegen. Man kennt nur eine kurze Reihe hunnischer Herrscher, die bis auf den berühmten Attila als Persönlichkeiten allenfalls schemenhaft fassbar werden, und es lassen sich nur wenige archäologische Funde (z.B. ein spezieller Kesseltyp oder ein diademähnlicher Frauenkopfschmuck) als spezifisch hunnisch ansprechen.
Das geringe Maß an gesicherten Informationen über die Hunnen an sich bettet Michael Schmauder kenntnisreich und quellennah mit umfangreichen Auszügen aus Werken spätantiker und frühmittelalterlicher Historiker in den Kontext der gesamten Völkerwanderungszeit ein. In den Fließtext eingeschobene Kurzinformationen zu zentralen Persönlichkeiten und Fachbegriffen sowie Kästen zu Spezialthemen bereiten den nicht immer unkomplizierten Stoff auch für Laien gut verständlich auf.
Schmauders Augenmerk gilt dabei zunächst schwerpunktmäßig der longue durée. Von den Kimmerern und Skythen der Antike bis zu den Mongolen des Hochmittelalters schildert er Kontinuitäten in der Lebensweise der eurasischen Steppenvölker und ihrer Konflikte mit den sesshaften Bewohnern Asiens und Europas. Als Konstanten über die Jahrtausende hinweg erscheinen dabei eine spezifische Form des Reiterkriegertums und ein nicht territorial, sondern personal geprägtes Herrschaftsverständnis, das die flexible Bildung größerer Verbände um charismatische Anführergestalten ebenso begünstigte wie eine rasche Auflösung vermeintlicher „Völker“ nach dem Wegfallen eines solchen Fixpunkts. Zum Machterhalt waren steppennomadische Eliten daher oft gezwungen, einen permanenten Zustrom von Kriegsbeute oder Tributzahlungen zu garantieren, um für ihr Gefolge attraktiv zu bleiben, das sich nicht unbedingt durch eine ethnisch oder ideologisch motivierte Verbundenheit auszeichnete.
Eine Fallstudie dieser Art von personenzentrierter Herrschaft entwickelt Schmauder anhand der lebendig gezeichneten Gestalt Attilas, dem es gelang, eine Stammeskonföderation beispiellosen Ausmaßes unter sich zu vereinen, der aber, um ihren Zusammenhalt zu gewährleisten, letztlich vor der Alternative stand, immer wieder Plünderungskriege zu führen oder nach einer stabilisierenden Einbindung in die vermeintlich festgefügten Strukturen des römischen Reichs zu streben. Dass er stattdessen durch seine Aktionen beträchtlich zum Untergang Westroms beitrug, lag vermutlich nicht in seiner Absicht. Doch auch die hunnische Hegemonie überdauerte seinen Tod nicht, da sich kein Gesamtnachfolger durchsetzen konnte und der Völkerverband rasch zerfiel.
Für ein relativ kurzfristiges historisches Phänomen war den Hunnen jedoch ein eindrucksvolles Nachleben beschieden: Von Heiligenviten über die hierzulande vor allem in Form des Nibelungenlieds bekannten Sagen bis hin zur Vereinnahmung in den Ursprungslegenden moderner Nationen ist bis heute eine rege Rezeption festzustellen.
Abgerundet und unterstützt wird der Text von reichhaltigem Bildmaterial, das neben Fundstücken, künstlerischen Darstellungen aus verschiedensten Zeiten und Karten auch Fotos von Landschaften und Angehörigen heutiger Nomadenvölker umfasst und so die historisch ferne Epoche ungeahnt verlebendigt.
Einzige Schwäche des rundum gelungenen Bandes sind zahlreiche Flüchtigkeitsfehler insbesondere bei den lateinischen Begriffen. Davon sollte man sich jedoch nicht abschrecken lassen, denn ansonsten ist die Lektüre unbedingt empfehlenswert.
Michael Schmauder: Die Hunnen. Ein Reitervolk in Europa. Darmstadt, Primus, 2009, 168 Seiten.
ISBN: 978-3896783424