Die Kormorane von Ut-Röst

Zugegeben: Dem Klappentext und dem Vorwort dieser Märchenausgabe merkt man an, dass sie in erster Auflage schon 1965 erschienen ist, denn manche Formulierung wirkt aus heutiger Sicht hoffnungslos blumig und die ein oder andere inhaltliche Tendenz überholt. Blendet man diesen Rahmen jedoch aus, bieten Die Kormorane von Ut-Röst eine lesenswerte und vielfältige Auswahl aus den bekannten, im 19. Jahrhundert entstandenen norwegischen Märchensammlungen von Asbjørnsen und Moe.
Viele Motive wirken für mit der deutschsprachigen Märchentradition aufgewachsene Leserinnen und Leser sofort vertraut, aber gerade die Geschichten, von denen es auch mitteleuropäische Versionen gibt, lassen an einzelnen Elementen erkennen, dass die skandinavische Märchenwelt eben doch ein bisschen anders ist. So basiert z.B. das Märchen Die Tochter des Mannes und die Tochter der Frau offenkundig auf dem gleichen Grundgerüst wie Frau Holle, doch statt zu dieser gelangen die Äquivalente von Goldmarie und Pechmarie zu zwei Trollfrauen, mit denen nicht zu spaßen ist.
Ohnehin gehören Trolle in jeglicher Ausprägung zu den wiederkehrenden Figuren. Oft übernehmen sie die Rolle des bedrohlichen, wenn auch leicht zu überlistenden Monsters, gelegentlich aber erweisen sie sich auch als hilfsbereite und im Einzelfall sogar recht niedliche Zeitgenossen (etwa wenn eine magische Flöte gleich eine ganze Schar purzelnder kleiner Trolle heraufbeschwört, die den Helden unterstützen). Wie die Trolle länderübergreifend im skandinavischen Kulturraum zu finden ist übrigens auch die hier nur in einem Märchen erscheinende Gestalt des bösen Röd, der als übelwollender Ritter mit List und Tücke einem Königssohn Ruhm und Braut streitig macht, in isländischen Märchen dagegen häufig als finsterer Ratgeber Raud erscheint, der den Helden ebenfalls nicht wohlgesonnen ist.
Die märchentypische Brutalität ist in manchen Geschichten recht ausgeprägt, zumal sie nicht immer nur der Überwindung und Bestrafung des Bösen gilt. Häufig fallen ihr auch Unschuldige zum Opfer. Auch manches Ende bietet nicht den klassischen glücklichen Ausgang, den man vielleicht zu erwarten gewohnt ist: Ein Held bringt es fertig, in der Suppe zu ertrinken, während ein anderer zwei Prinzessinnen schwängert und nach der Eliminierung des restlichen Königshauses offenbar mit ihnen zusammenlebt. Umgekehrt erpresst eine hässliche Heldin einen Prinzen gnadenlos zur Heirat, indem sie droht, seinem verwitweten Vater sonst ihre schöne Schwester vorzuenthalten, in die der König sehr verliebt ist.
Neben typischen Märchen sind auch einige Texte enthalten, die man eher als Sagen kategorisieren möchte, so z.B. Gullfebla, eine Erzählung über einen Tauschhandel mit andersweltlichen Mächten, oder die titelgebenden Kormorane von Ut-Röst, in denen ein Fischer von den Lofoten drei Exemplaren dieser Vogelart begegnet, mit denen es eine ganz besondere Bewandtnis hat.
All dies fasst Käthe Wolf-Feurer in ihrer Übersetzung in eine zeitlose Sprache, in der auch die formelhaften Wendungen und die Übertragungen kurzer Gedichtstrophen überzeugend wirken. Wer Lust auf einen Ausflug in Märchenwelten abseits der Gebrüder Grimm hat, findet hier also unterhaltsame und manchmal durchaus überraschende Lektüre.

Käthe Wolf-Feurer (Hrsg.): Die Kormorane von Ut-Röst. Norwegische Märchen. Übersetzt von Käthe Wolf-Feurer. Stuttgart, J. Chr. Mellinger, 2. Aufl. 1981, 168 Seiten.
ISBN: 3880690952


Genre: Märchen und Mythen