Gefangene der Zeit

Sowohl menschliches Handeln allgemein als auch die Geschichtsschreibung, die auf Vergangenes zurückblickt, sind immer ihrer Zeit verhaftet – das ist die Prämisse, die als eine Art lose Klammer die Texte zusammenhält, die in Christopher Clarks Aufsatzband Gefangene der Zeit versammelt sind. Wenn der Untertitel dabei suggeriert, dass Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump behandelt werden, ist das etwas zu hoch gegriffen, denn der Schwerpunkt liegt, passend zu den Forschungsinteressen des mittlerweile einem breiten Publikum bekannten Historikers, auf dem 18. bis 21. Jahrhundert. Der rote Faden, der die recht heterogene Zusammenstellung verbindet, ist eher dünn, aber das heißt nicht, dass die Lektüre sich nicht lohnt.

Das von allen Texten zuletzt entstandene Vorwort: Wie aus Gegenwart Geschichte wird nimmt die gerade grassierende Corona-Pandemie in den Blick, die Historikerinnen und Historiker der Neuzeit zwingt, sich stärker mit einer Seuche auseinanderzusetzen, als sie es Clarks Einschätzung nach gemeinhin tun. Im ersten eigentlichen Aufsatz Der Traum des Nebukadnezar oder Gedanken über die Macht geht es weniger um Nebukadnezar als historische Persönlichkeit und mehr um die biblische Geschichte, in der Daniel dem babylonischen Herrscher einen Traum deutet, in dem für Clark der unlösbare Konflikt zwischen dem Streben nach (dauerhafter) Macht und der menschlichen Endlichkeit und Sterblichkeit exemplifiziert ist.

Der nächste Essay, der sich mit dem Deutschland des 18. und 19. Jhs. befasst, bedeutet also einen großen zeitlichen Sprung: In Die Juden und das Ende aller Tage geht es um überwiegend erfolglose protestantische Bestrebungen, Menschen jüdischen Glaubens zum Christentum zu bekehren und dabei auch auf materielle Anreize zu setzen. Die Frage Welche Bedeutung hat eine Schlacht? stellt sich Clark dagegen in einem Vortrag, der zwar anlässlich einer Konferenz zur Schlacht bei Hastings gehalten wurde, sich aber primär mit Ereignissen des 16. und 19. Jahrhunderts befasst.

Als Frage formuliert ist auch der Titel des nächsten Beitrags, Von Bismarck lernen?, in dem Clark nicht nur imaginiert, wie wohl ein Managementratgeber aus der Feder Otto von Bismarcks aussehen würde, sondern auch herausarbeitet, inwieweit dieser in heutiger Zeit von Personen als Vorbild betrachtet wird, die für einen autoritären Politikstil plädieren (und dabei die Zeit- und Systemgebundenheit von Bismarcks eben nicht immer nachahmenswerter Handlungsweise gern verkennen). Findet man hier noch viel Bekanntes wieder, geht es in Liebesgrüße aus Preußen. Fanatismus, Liberalismus und Öffentlichkeit im Königsberg der 1830er Jahre in eher unvertraute Winkel der preußischen Geschichte, wenn ein Skandal um sektiererische Religiosität und eine den Sitten der Zeit widersprechende Sexualmoral nachgezeichnet wird.

Der Kaiser und sein Biograph dagegen ist eine Art erweiterter Rezension von John Röhls mehrbändiger Biographie Wilhelms II. und Reflexion darüber, inwieweit Röhls eigener Lebensweg zwischen Großbritannien und Deutschland sich auf sein wissenschaftliches Arbeiten ausgewirkt haben mag. Dem Thema der Biographie bleibt auch der folgende Aufsatz Leben und Tod des Generalobersten Blaskowitz treu, der am Beispiel eines Offiziers in der Nazizeit verdeutlicht, dass selbst manche Personen, die punktuell Kritik an Gräueltaten übten, in anderer Hinsicht die Terrorherrschaft weiter mittrugen, so dass eine Dichotomie zwischen überzeugten Nazis und Widerstand zu kurz greift, um die tatsächlichen Verhältnisse zu erfassen. Mit derselben Epoche befassen sich auch die Psychogramme aus dem Dritten Reich, wobei der Titel in die falsche Richtung denken lässt, denn ein detailliertes Persönlichkeitsbild wird eigentlich nur von Himmler geliefert, während Hitler mittelbar in einem Abwägen verschiedener historiographischer Einschätzungen gegeneinander erscheint. Ansonsten stehen weniger Individuen im Mittelpunkt als die Strategie der Führungsriege der Nazis, mit alten gesellschaftlichen Eliten zu kooperieren und deren Lebensstil bis zu einem gewissen Grade zu kopieren.

Thematisch ganz anders ist Die Zukunft des Krieges gelagert; hier geht es ausgehend von einem Beispiel aus dem 18. Jahrhundert, aber auch unter Einbeziehung von Science-Fiction und modernen Sachtexten, um Vorhersagen künftiger kriegerischer Konflikte. Naturgemäß sind auch solche Blicke nach vorn von ihrer jeweiligen Gegenwart geprägt und darum in vielen Fällen alles andere als zutreffend. Mit Hoch in heiterer Luft (einer Laudatio auf Jürgen Osterhammel) und Nachruf auf einen Freund (einem Nachruf auf Christopher Bayly) folgen zwei Texte, die jeweils das Wirken eines Historikers umfassend würdigen. Beide Kollegen von Christopher Clark haben das Interesse an der Überwindung eurozentrischer Perspektiven in der Geschichtswissenschaft gemeinsam.

Dagegen widmet sich Clark in Von Nationalisten, Revisionisten und Schlafwandlern Kritik an seinem eigenen Werk Die Schlafwandler. Den offenbar mehrfach geäußerten Vorwurf, er würde darin die deutsche Schuld am Ersten Weltkrieg relativieren, hält er für verfehlt. Vielmehr sei es ihm darum gegangen, aufzuzeigen, dass die deutsche Kriegstreiberei auf fruchtbaren Boden fallen konnte, weil auch in anderen Ländern ein vergleichbar imperialistisches Gedankengut vorherrschte, und die insbesondere im englischen Sprachraum noch gängige Glorifizierung dieses Krieges als verfehlt zu entlarven.

Der abschließende Text Unsichere Zeiten bietet einen Blick auf unsere Gegenwart, in der die alten Gewissheiten des 20. Jahrhunderts ins Wanken geraten und die internationale Politik – erörtert insbesondere am Beispiel von Donald Trump und seinem schwankenden Verhältnis zu Kim Jong Un – unberechenbarer denn je wirkt. Clark sieht einen zentralen Grund dafür darin, dass die bis vor wenigen Jahrzehnten von vielen Menschen geteilte Zukunftsvision eines unaufhaltsamen Fortschritts hin zu immer mehr Demokratie, Wohlstand und technologischer Perfektion an Strahlkraft verloren und stattdessen angstvollen Endzeitszenarien aller Art Platz gemacht habe. So mündet die Betrachtung der Vergangenheit in diesem Buch letztendlich in den Aufruf, über die Zukunft nachzudenken und gerade in unserer Zeit voller Krisen und Unwägbarkeiten neue Pläne und Hoffnungen zu entwickeln – ein beachtenswerter Denkanstoß.

Die Übersetzung von Norbert Juraschitz transponiert Clarks eingängigen Stil insgesamt überzeugend ins Deutsche, trifft aber an einigen Stellen nicht immer exakt den passenden Ausdruck (wenn z.B. behauptet wird, Hitler habe gern „seine eigenen Wasserfarben“ [S. 217] verschenkt, fragt man sich, ob nicht doch eher Aquarelle im Sinne von Bildern – englisch watercolours – gemeint sein könnten). Auffällig ist auch, dass dort, wo dasselbe Zitat in unterschiedlichen Aufsätzen zweimal auftaucht, jedes Mal eine andere Übersetzung gewählt wird (so etwa drohte Kim Jong Un je nach Version entweder eine „schockierende, wirkliche Maßnahme“ [S. 256] an oder mit einer „schockierenden eigentlichen Aktion“ [S. 318]). Hier hätte man sich ein etwas genaueres Lektorat gewünscht.

Christopher Clark: Gefangene der Zeit. Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump. München, DVA, 2020, 336 Seiten.
ISBN: 978-3-421-04831-8


Genre: Geschichte