Es ist nicht den Nibelungen allein zu verdanken, dass der Rhein und seine Umgebung als „sagenhafte“ Gegend par excellence gelten. Burgenromantik, geschichtsträchtige Stätten und nicht zuletzt die Funktion des Flusses als Verkehrsweg und Schnittstelle zwischen verschiedenen Ländern und Kulturen sorgen dafür, dass sich alle möglichen Geschichten mit der Region verbinden. Aus Sagensammlungen des 19. und 20. Jahrhunderts hat Tilman Spreckelsen für Loreley und Schlangenfrau eine bunte Auswahl zusammengestellt, die dem Lauf des Rheins von der Schweiz bis in die Niederlande folgt.
Die abgedeckte Bandbreite ist dabei groß, von der Form wie vom Inhalt her: Von längeren Erzählungen bis zu lakonisch auf zwei Sätze beschränkten Texten ist alles dabei. Einige Geschichten überformen tatsächliche oder vermeintliche historische Begebenheiten literarisch, während andere mit einer Fülle von märchenhaften und phantastischen Elementen aufwarten (wie der im Titel erwähnten, auf Erlösung hoffenden Schlangenfrau). Berühmtes steht neben eher Ungewohntem: Von der Loreley oder vom Binger Mäuseturm haben wahrscheinlich viele schon einmal etwas gehört, vom Friesenherrscher Radbod oder von Einhard und Emma zumindest Geschichtsinteressierte. Andere Sagen drehen sich eher um Lokalheroen (wie etwa einen Wilderer aus dem Frankfurter Raum) oder um Motive, die man auch aus anderen Gebieten kennt, wie Teufelsspuk, bestraftes menschliches Fehlverhalten oder böse Vorzeichen. Gerade die Heterogenität der Mischung sorgt für Abwechslung und hält die Neugier wach, und so liest man sich mit Vergnügen durch die drei geographischen Räume, nach denen die Sammlung geordnet ist („Der junge Rhein und seine Zuflüsse“, „Von Basel bis zum Niederrhein“, „Das Rheindelta in den Niederlanden“).
Allein – die Sagen selbst sind auch so gut wie alles, was man bekommt, denn das Beiwerk fällt mager aus. In seinem Nachwort legt Spreckelsen zwar pauschal offen, auf welche vier Bücher er sich hauptsächlich gestützt hat (neben den Sagensammlungen Ludwig Bechsteins und der Brüder Grimm auch Johann Wilhelm Wolfs Niederländische Sagen und Meinrad Lienerts Schweizer Sagen und Heldengeschichten). Der sonst in Anthologien dieser Art übliche Einzelnachweis der Quellen für die jeweiligen Sagen fehlt jedoch leider. Auch die an gleicher Stelle angestellten Betrachtungen zur Stoffgeschichte und Flexibilität der Textgattung, die gerade vom Weitererzählen und zeitbedingten Umformen lebt, bleiben recht kurz und knapp.
Deshalb ist der Eindruck, den man von Loreley und Schlangenfrau hat, am Ende etwas gemischt. Zur kurzweiligen Lektüre taugt der Band auf jeden Fall, aber man hätte sich doch ein paar zusätzliche Ansatzpunkte für einen tieferen Einstieg ins Thema gewünscht.
Tilman Spreckelsen (Hrsg.): Loreley und Schlangenfrau. Rheinsagen von der Quelle bis zur Mündung. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch, 2018, 240 Seiten.
ISBN: 9783596906772