Schon auf dem schön gestalteten Umschlag verspricht Jörg Rüpkes Pantheon eine Geschichte der antiken Religionen. Titel und Untertitel führen jedoch in die Irre, und das nicht nur, weil der geographische Schwerpunkt allein auf Italien und insbesondere Rom liegt, so dass etwa die Religion in Griechenland bis auf wenige Erwähnungen am Rande ausgespart bleibt. Vor allem ist es der Begriff „Pantheon“, der die falschen Assoziationen weckt, denn wer detaillierte Informationen über die Götterwelt der Antike und die mit den verschiedenen Gottheiten verbundenen Mythen, Bildwerke und Bräuche erwartet, wird hier nicht fündig. Rüpke geht es gerade nicht darum, Sagen nachzuerzählen oder bis in alle Einzelheiten die Praktiken individueller Kulte auszuloten. Vielmehr fragt er nach den großen Entwicklungslinien und dem Wesen von Religion an sich und ist dabei bemüht, einengende Denkschablonen aufzubrechen.
Religion ist für ihn primär die Kommunikation des Einzelnen mit höheren Mächten, zugleich aber auch mit anderen Menschen, deren Billigung, Duldung oder Ablehnung des individuellen religiösen Handelns zu allen Zeiten einen entscheidenden Faktor bildete. Mehr oder minder öffentlich gelebte Religiosität war daher immer auch Selbstdarstellung – sei es ganz unverhohlen in Form von Stifterinschriften oder Grabbauten, sei es mittelbar durch die Übernahme spezifischer Rollen im kultischen Kontext, den Vollzug bestimmter Rituale oder die Betonung eines besonders engen Verhältnisses zu ausgewählten Gottheiten.
Die entscheidende Entwicklung, die sich dabei zwischen der nur bruchstückhaft zu rekonstruierenden Religiosität der Eisenzeit und der Spätantike mit ihren Mysterienkulten und der Genese des Christentums vollzog, ist für Rüpke der Wandel von einem Primat situativ angemessenen rituellen Handelns zur identitätsstiftenden, aber auch ab- und ausgrenzenden Zugehörigkeit zu einer Religion.
Parallel zu dieser Entwicklung wurden religiöse Kenntnisse immer stärker systematisiert und dogmatisiert: Standen am Anfang ein Lernen durch Beobachtung von und Teilnahme an religiösen Handlungen und eine gewisse Offenheit, bemühte man sich schon in der späten Republik und in der Kaiserzeit, Überliefertes schriftlich festzuhalten und zu ordnen, während mit dem aufkommenden Christentum die Texte selbst zum konstituierenden Element einer Glaubensüberzeugung werden konnten. Mit dieser allmählichen Herausbildung eines theologischen Expertenwissen gingen auch eine Einschränkung der religiösen Kompetenz, die man Individuen zubilligte, und eine fortschreitende Institutionalisierung und Hierarchisierung religiöser Gemeinschaften einher. Am Ende der Antike bestand dann in den Grundzügen bereits etwas, das unserem heutigen Verständnis von Religion nahekam, aber von den Anfängen sehr weit entfernt war.
Diese Geschichte erzählt Jörg Rüpke ungemein kenntnisreich, mit spürbarer Begeisterung für sein Thema und unter Verwendung zahlreicher einleuchtender Beispiele aus literarischen und archäologischen Quellen. Besonders erfreulich ist, dass er den Blick auf religiöse Ausdrucksformen und Handlungsspielräume von Männern und Frauen gleichermaßen lenkt und hier auch deutlich macht, wie stark soziale und religiöse Rollenzuschreibungen sich beeinflussen konnten (z.B. bei der Zuweisung des doch recht einschränkenden Vestalinnenamtes allein an Frauen oder bei deren Verdrängung aus dem christlichen Episkopat).
Allein stilistisch wird es bisweilen ein wenig sperrig. Man hat durchaus Verständnis dafür, dass Rüpke in seinem Bemühen, einen ungewohnten Zugang zur Religion in der Antike zu suchen, gezielt differenzierte Formulierungen wählt und neue Begrifflichkeiten etablieren möchte. Aber begegnet man zum wiederholten Male z.B. den „nicht unbezweifelbar plausiblen Akteuren“ – so Rüpkes Sammelbegriff für Götter, Ahnen und andere übernatürliche Adressaten religiösen Handelns -, sehnt man sich doch insgeheim nach einem unkomplizierteren Ausdruck.
Davon sollte man sich jedoch von der Lektüre nicht abschrecken lassen, denn um die Denkanstöße, die einem sonst entgehen würden, wäre es schade. Ein spannendes und intellektuell anregendes Buch!
Jörg Rüpke: Pantheon. Geschichte der antiken Religionen. München, C. H. Beck, 2016, 559 Seiten.
ISBN: 9783406696411