Scandinavia in the Age of Vikings

Beim Stichwort „Wikinger“ denkt man gemeinhin an brutale Überfälle, wilde Kämpfe und abenteuerliche Seefahrten, vermutlich auch an einen weitgespannten geographischen Rahmen von Nordamerika bis Osteuropa und Byzanz. Eine gänzlich andere Perspektive wählt Jón Viðar Sigurðsson in Scandinavia in the Age of Vikings. Ihn interessieren vor allem die Genese der – wenn auch nach zahlreichen Wechselfällen der Geschichte in veränderter Form – bis heute bestehenden Königreiche Dänemark, Norwegen und Schweden sowie die soziale und politische Organisation der Gesellschaft im Skandinavien der Wikingerzeit. Ganz konsequent wird diese selbstauferlegte örtliche Beschränkung allerdings nicht aufrechterhalten; gelegentlich müssen mangels direkter Quellen für Skandinavien die ja auch kulturell von Skandinaviern geprägten isländischen Verhältnisse als Vergleichsobjekt herhalten.

Ausgehend von der Beobachtung, dass Skandinavien im Innern trotz aller Gewalttaten, die von dort aufgebrochene Plünderer in anderen Teilen Europas verübten, in der Wikingerzeit nicht von mehr Kriegen erschüttert wurde als der Rest der Welt und oft auch Frieden erlebte, wirft er die Frage nach Strategien des Miteinanders, der Konfliktvermeidung und der Streitschlichtung auf.

Zentral ist für ihn dabei der Begriff der Freundschaft, nicht im Sinne persönlicher Sympathie (die es sicher auch gegeben haben wird), sondern als politisches Konzept, das eine Fülle von Bindungen beschrieb, die von gegenseitiger Unterstützung und Wohlwollen gekennzeichnet waren, vom strategischen Bündnis zwischen Gleichrangigen bis hin zum Verhältnis eines Anführers (ob nun mächtiger König oder nur lokal bedeutender Häuptling) zu seinen Gefolgsleuten und Anhängern. Sogar die vorchristliche Religiosität der Wikingerzeit versucht der Autor nach diesem Prinzip zu deuten, wobei dem kultischen Handeln der Herrschenden eine besondere Bedeutung dafür, den Menschen die Freundschaft der Götter zu erwerben, zukam – mit ein Grund dafür vielleicht, dass die Christianisierung in den skandinavischen Ländern größtenteils von oben erfolgte. Das Kapitel zum Thema Religion ist allerdings auch das, in dem man immer wieder versucht ist, einige Annahmen mit Fragezeichen zu versehen (etwa, wenn recht pauschal eine Zuordnung der Verehrung der Götter Odin und Freyr zu den Königen und der Verehrung des Gottes Thor zu den Häuptlingen vorgenommen wird, obwohl in den Sagas – bei allen Vorbehalten, die man bezüglich ihres Quellenwerts für die Wikingerzeit haben mag und muss – zumindest für Island auch immer wieder eine ausgeprägte Verehrung Freyrs durch Figuren aufscheint, die eher als Häuptlinge oder wohlhabende Bauern gezeichnet sind, so z. B. in der Hrafnkels saga oder Víga-Glúms saga).

Wichtig für die sozialen Verhältnisse ist natürlich auch die Männern und Frauen jeweils zugewiesene Stellung. Diesbezüglich ergibt sich das Bild einer Gesellschaft, die zwar prinzipiell männer- und kriegerdominiert war, aber Geschlechterrollen schon aus der Not heraus im Einzelfall weitaus flexibler handhabte als das anschließende Hochmittelalter. Vor diesem Hintergrund plädiert der Autor beispielsweise auch dafür, die Grabherrin des Osebergschiffs nicht, wie in der Forschung oft geschehen, als Königsgemahlin, sondern als Häuptling anzusprechen – eine Stellung, in die sie als Witwe oder Tochter eines Vorgängers gelangt sein könnte.

Wie dieses Beispiel zeigt, rückt die Schwerpunktsetzung des Buchs die quellenmäßig besser fassbaren sozialen Eliten stark in den Fokus. Zwar tauchen beim Blick auf die Gesellschaftsgliederung allgemein und sonst immer wieder en passant auch die unteren Schichten der Bevölkerung wie einfache Bauern oder Sklaven auf, und es werden durchaus Überlegungen dazu angestellt, wie es denjenigen Wikingern ergangen sein mag, die von einem Raubzug nicht als erfolgreiche Plünderer, sondern verwundet und vielleicht gar mit lebenslangen Behinderungen zurückkehrten, aber das Hauptaugenmerk gilt den Einfluss- und damit auch Freundesreichen. Wer sich vor allem wünscht, mehr über die Durchschnittsskandinavier der Wikingerzeit und ihre alltägliche Lebenswelt zu erfahren, ist hier also nicht an der richtigen Stelle, anders als alle an politischen Mechanismen Interessierten.

Rätselhaft ist die Auswahl des Bildmaterials. Etwas irritierend ist zunächst, dass in den zur Orientierung prinzipiell durchaus ganz nützlichen Karten teilweise historische und moderne Ortsnamen bunt gemischt auftreten (so hat die dem Text vorangestellte Karte 1 unter dem Titel Scandinavia in the Viking Age neben zeittypischen Bezeichnungen für Regionen wie etwa Svealand (in etwa das heutige Mittelschweden) und Bjarmaland (im heutigen Nordwestrussland) auch Schleswig-Holstein zu bieten, das im Frühmittelalter garantiert noch nicht unter dieser Bezeichnung geläufig war). Für ein Sachbuch zu einem historischen Thema eher speziell wirkt auch die Entscheidung, abgesehen von den Karten als Abbildungen ausschließlich ausgewählte Illustrationen aus der 1899 erschienenen norwegischen Saga-Ausgabe Snorre Sturlason Kongesagaer zu verwenden – Bilder also, die den Blick von Künstlern des 19. Jahrhunderts auf die Texte eines Autors des Hochmittelalters über die behandelte Epoche und damit eine mehrfach gefilterte Wikingerzeit zeigen. Ob das als dezenter Hinweis darauf zu deuten ist, dass wir die historische Wahrheit immer nur bedingt und in Auseinandersetzung mit der Sicht vorangegangener Generationen darauf zu rekonstruieren vermögen, oder ob schlicht der unbestreitbare ästhetische Reiz der Darstellungen den Ausschlag gegeben hat, ist nicht zu entscheiden.

Lesenswert ist Jón Viðar Sigurðssons Annäherung an das wikingerzeitliche Skandinavien aber auf alle Fälle, gerade auch, weil sie andere Facetten beleuchtet als die gängigen populären Darstellungen.

Jón Viðar Sigurðsson: Scandinavia in the Age of Vikings. Ithaca / London, Cornell University Press, 2021, 212 Seiten.
ISBN: 978-1-5017-6047-1

 


Genre: Geschichte