Vielleicht hat man schon einmal den Namen des indonesischen Vulkans Tambora gehört und erinnert sich sogar vage, dass sein Ausbruch 1815 das Folgejahr in Teilen Europas zu einem „Jahr ohne Sommer“ machte. Wie weitreichend die Auswirkungen dieser Katastrophe weltweit waren und welche wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen direkt oder zumindest mittelbar mit ihr in Zusammenhang stehen, wird jedoch selbst in der historischen Forschung oft vernachlässigt. Wolfgang Behringer ist in Tambora und das Jahr ohne Sommer bemüht, diese Auslassung zu korrigieren und ganz allgemein das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die Natur oft stärkeren Einfluss auf die Geschichte nimmt, als Zeitgenossen und spätere Generationen erkennen können oder wahrhaben wollen.
Auch wenn Behringer zunächst den gewaltigen Vulkanausbruch selbst schildert, der im April 1815 zahlreiche Menschenleben forderte und ganze Landstriche auf der Insel Sumbawa verwüstete, liegt sein Hauptaugenmerk geographisch in der Folge auf Süddeutschland und der Schweiz (mit einigen Abstechern in andere europäische Gebiete, insbesondere England, aber auch nach Nordamerika, Südafrika oder China).
Die temporäre Klimaverschlechterung und ihre Folgen – Missernte, Hungersnot und Seuchen – trafen in Europa auf eine Gesellschaft, die nicht nur von den napoleonischen Kriegen gebeutelt war, sondern mit dem Ende des Ancien Régime auch ihre traditionellen, religiös oder kommunal organisierten Formen der Sozialfürsorge verloren hatte. Die staatlichen und privaten Initiativen zur Linderung der akuten Not, die sich gezwungenermaßen neu entwickeln mussten, sieht Behringer als wichtige Wegbereiter entsprechender moderner Institutionen. Er stellt sogar die These in den Raum, dass Europa und Nordamerika gerade durch ihre erfolgreiche Krisenbewältigung weltpolitisch einen Vorsprung gegenüber China gewinnen konnten.
Doch die Hilfsmaßnahmen griffen nicht überall schnell, umfassend und gründlich genug: Auswanderungswellen in tatsächlich oder vermeintlich vielversprechendere Gebiete waren ein Phänomen der Zeit, das durch den Tamboraausbruch merklich angeheizt wurde.
Behringers Beobachtungen zur Entstehung von Migrationsströmen und dem Elend, das sich aus dem Versuch, sie aufzuhalten, ergibt, lassen dabei ebenso Parallelen zu aktuellen Verhältnissen erkennen wie die im Zuge der Tamborakrise zu beobachtende Radikalisierung von Teilen der Gesellschaft, die Sündenböcke suchte und sie in den gerade erst die rechtliche Gleichstellung mit der Mehrheitsbevölkerung erringenden Juden fand. Die Quellenzitate in den mit antisemitischen Parolen und Ausschreitungen befassten Abschnitten haben einen erschütternden Wiedererkennungseffekt, gleichen doch bestimmte Argumentationsstrukturen verblüffend denen, mit deren Hilfe heutzutage Stimmung gegen Flüchtlinge insbesondere muslimischen Glaubens gemacht wird.
Vor diesem Hintergrund plädiert Behringer auch dafür, bestimmte politische Entwicklungen der Epoche differenzierter als bisher zu bewerten, etwa die Karlsbader Beschlüsse, die heute oft als engstirnige und reaktionäre Einschränkung bürgerlicher Freiheiten eingeschätzt werden, aber stark von den antisemitischen Hep-Hep-Unruhen beeinflusst waren, so dass man sie in gewisser Weise auch als frühe Form der Terrorismusbekämpfung sehen kann. Dass gerade die liberalen, um Reformen bemühten Kreise nicht die tolerantesten waren, was die Frage der Judenemanzipation anging, nimmt man als interessante Zusatzinformation mit.
Weniger betroffen stimmen Behringers Ausführungen zu den Auswirkungen der Tamborakrise auf Literatur und bildende Kunst, so etwa zu der Theorie, dass sich in den besonders eindrucksvollen Sonnenuntergängen der Malerei der Romantik eine durch die Vulkanasche verursachte Wettererscheinung spiegeln könnte, oder zur Entstehung der Horrorliteratur. So ist dem Ausbruch des Tambora auf Umwegen Mary Shelleys Frankenstein zu verdanken, fühlte sich doch der junge englische Schriftstellerkreis um Lord Byron, der den Sommer 1816 am Genfer See verbrachte, durch das trübe und düstere Wetter inspiriert, sich bevorzugt mit gruseligen Sujets zu befassen.
Die zahlreichen Details und kleinen Ereignisse, die Behringer zusammenträgt und auf den Tamboraausbruch rückbezieht, können dabei manchmal in ihrer schieren Fülle etwas unübersichtlich und verwirrend sein. Insgesamt ergibt sich jedoch ein überzeugendes Plädoyer dafür, Naturereignissen einen größeren Stellenwert in der Geschichtsschreibung einzuräumen und aus dem Umgang der Vergangenheit mit solchen Krisen Lehren für die heutige Zeit zu ziehen, was beispielsweise den Klimawandel betrifft.
Wolfgang Behringer: Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzte. München, C.H. Beck, 3. Aufl. 2016, 398 Seiten.
ISBN: 9783406676154