The Mystery of the Hanging Garden of Babylon

Als eines der sieben Weltwunder der Antike sind die Hängenden Gärten von Babylon allgemein bekannt, aber dennoch weiß man zugleich fast nichts über sie. Während andere Weltwunder entweder in – freilich meist geringen – Resten bis heute überdauert haben oder zumindest in Schilderungen zeitgenössischer Augenzeugen ausführlich dokumentiert sind, setzen die Quellen im Falle der Hängenden Gärten erst Jahrhunderte nach ihrer Entstehung (und vielleicht auch Zerstörung) ein. Die zwischen hellenistischer Zeit und Spätantike verfassten Beschreibungen der Gärten sind sich zwar über die terrassenartige Anlage und das versteckte Bewässerungssystem einig, aber nicht einmal darüber, wer das Weltwunder erbauen ließ – neben der legendären Königin Semiramis werden auch Nebukadnezar II. und ein namentlich nicht genannter (as)syrischer König ins Spiel gebracht.
An dieser Stelle setzt die Theorie der renommierten Assyriologin Stephanie Dalley an. In dem namenlosen assyrischen König der antiken Schilderungen sieht sie den um 700 v. Chr. regierenden Sanherib, aus dessen Zeit nicht nur ausgedehnte Aquädukte erhalten sind, die seine Residenzstadt Ninive mit Wasser versorgten, sondern auch Schrift- und Bildquellen, die die Existenz eines terrassenförmig angelegten, mit einem innovativen Schraubensystem bewässerten Palastgartens belegen.
Die Auswertung dieses auch in zahlreichen Abbildungen liebevoll aufbereiteten Materials macht das Herzstück des Buchs aus und liest sich faszinierend, vor allem, da der anscheinend sehr technikbegeisterte Sanherib darin in Ansätzen individuelle Züge gewinnt, die bei vielen anderen altorientalischen Herrschern allenfalls undeutlich auszumachen sind.
Phantasievoller und damit auch unsicherer wird es dagegen, wenn Dalley Überlegungen anstellt, wie es in der Antike zur Verwechslung von Sanheribs Garten mit einem vielleicht gar nicht in dieser Form vorhandenen in Babylon gekommen sein könnte. Zu all den Thesen einer Gleichsetzung Ninives mit Babylon, eines Verschmelzens der Herrschergestalten Sanherib und Nebukadnezar und eines Überdauerns der Gärten oder des Wissens darum über die Verwüstung Ninives 612 v. Chr. hinaus bis in die Epoche Alexanders des Großen kann man eigentlich nur sagen, dass das,  was Dalley vermutet, zwar möglich, aber nicht erwiesen ist.
Wie bei fast allen historischen Sachbüchern, die anhand von Indizien und Spekulationen eine Neubewertung vermeintlich gesicherten Wissens präsentieren, bleiben daher auch nach dieser Lektüre leise Zweifel. Dalleys Argumentation wirkt zwar in vielen Bereichen überzeugend, aber unanfechtbar ist sie nicht, und vor allem die Frage, ob Sanheribs „hängender“ Garten nicht auch anderswo – vielleicht eben in Babylon – kopiert worden sein könnte, lässt sich auf Basis des heute Bekannten einfach nicht abschließend klären.
Doch darauf kommt es letztlich auch gar nicht an, denn was die von ihr herangezogenen Quellen und Funde eindringlich zeigen, ist, dass es in Ninive eine hochstehende Gartenkunst und eine ausgefeilte Bewässerungstechnik gegeben haben muss. Gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass man sich die Assyrer oft nur als kriegerisches Volk ausmalt und sich über ihre Interessen und Leistungen in Friedenszeiten viel zu selten Gedanken macht, ist diese Erkenntnis allein die Lektüre des Buchs mehr als wert, ganz gleich, ob es sich bei Sanheribs Garten nun um die berühmten „Hängenden Gärten“ gehandelt haben mag oder nicht.

Stephanie Dalley: The Mystery of the Hanging Garden of Babylon. An Elusive World Wonder Traced. Oxford, Oxford University Press, 2015 (Originalausgabe: 2013), 279 Seiten.
ISBN: 9780198728849


Genre: Geschichte