Vergils Aeneis gilt als das römische Epos schlechthin und wird seit zweitausend Jahren immer wieder rezipiert, interpretiert und als Inspirationsquelle genutzt. Wer vor dem Hintergrund daran zweifelt, dass es überhaupt noch etwas Neues über das Werk zu sagen gibt, ist mit einem Blick in Markus Jankas Einführung Vergils Aeneis gut beraten, die einen frischen und bisweilen unerwarteten Zugang zu der alten Geschichte über den Flüchtling aus Troja bietet, der sich auf göttlichen Ratschluss hin nach Italien begibt.
Von einer einzigen Geschichte zu sprechen, ist dabei aber vielleicht verfehlt, denn Markus Janka deutet die Aeneis vielmehr als Abfolge von ihren zwölf Büchern entsprechenden zwölf Heldengeschichten um dreizehn zentrale Figuren (Aeneas, Laocoon, Achaemenides, Dido, Anchises, Sibylla, Latinus, Euander, Nisus und Euryalus, Pallas, Camilla sowie Turnus, wobei das Freundespaar Nisus und Euryalus aufgrund seiner gemeinsamen Geschichte als Einheit behandelt wird).
Nach vier den Rahmen absteckenden Kapiteln, in denen die homerischen und hellenischen Vorbilder der Aeneis, ihre Stellung im Werk Vergils und ihre historische Verortung im Prinzipat des Augustus behandelt werden, bildet den Schwerpunkt der Einführung daher eine Art interpretierende Nacherzählung der zwölf Bücher der Aeneis mit einzelnen Zitaten, vor allem aber auch vielen zweisprachig wiedergegebenen Einzelbegriffen, die in ihrer Bedeutung für das Epos diskutiert werden.
Die Übersetzung der lateinischen Wörter entspricht dabei nicht immer dem Gewohnten. So gibt Janka etwa die charakteristische pietas des Aeneas mit „Bravheit“ (S. 7) wieder – eine Formulierung, die überrascht, wenn man selbst (wie die Rezensentin) den pius Aeneas spontan vielleicht eher als einen „pflichtergebenen“ Mann beschrieben hätte, die aber zugleich mehr als ein Denkanstoß ist, sondern einen zentralen Ausgangspunkt der Deutung des Werks bildet. Sonst oft betonte Aspekte wie das Augustuslob oder der römische Ursprungsmythos werden zwar nicht ausgeblendet, aber vor allem zeichnet Janka die Geschichte des Aeneas als die eines Mannes, der zwar zunächst „brav“ beginnt (und damit den wenig sozialverträglichen homerischen Helden überlegen ist), dessen Bild aber mit dem Fortschreiten der Handlung immer mehr Risse bekommt.
Ist Aeneas schon in seinem Umgang mit Dido letzten Endes der moralisch Unterlegene, lassen ihn nach seiner Ankunft in Italien die blutigen Kriegshandlungen, in die er sich verstrickt, immer weiter von seinem ursprünglichen Anstand abkommen, bis er mit Menschenopfern und ganz am Ende mit der Verweigerung der Gnade, um die der unterlegene Turnus fleht, auch für römische Begriffe weit vom richtigen Handeln entfernt ist. Erinnert man sich daran, dass Aeneas als Vorfahr der Römer gilt, schwingt in seinem moralischen Abstieg, der mit dem Aufstieg im Machtgefüge der Welt einhergeht, also die Mahnung an Rom mit, sich von Durchsetzungskraft und Kampferfolgen nicht verleiten zu lassen, seine ursprünglichen Überzeugungen zu verraten – eine Warnung, die zu beherzigen dem aufstrebenden Imperium und mancher Einzelperson in ihm vielleicht gutgetan hätte.
Ein kurzer Ausblick auf die heutige Aeneis-Rezeption in Film und Literatur und Schaubilder mit schematischen Darstellungen zum Aufbau des Werks runden das Buch ab. Ganz gleich, ob man sich Jankas Interpretation vorbehaltlos anschließen oder sich eher kritisch damit auseinandersetzen möchte, ist die kleine Einführung auch dank dieser Übersichten eine gute Einstiegsmöglichkeit in Vergils Schaffen und eine hilfreiche Begleitung bei der eigenen Lektüre der Aeneis.
Markus Janka: Vergils Aeneis. Dichter, Werk und Wirkung. München, C. H. Beck, 2021, 128 Seiten.
ISBN: 98-3-406-72688-0