Viele Wörter aus dem Mittelhochdeutschen erschließen sich einem relativ schnell, sind sie doch Vorformen heute noch gebräuchlicher Begriffe. Andere dagegen haben den Sprachwandel im Laufe der Zeit nicht überstanden, sondern sind irgendwann außer Gebrauch gekommen, und so sind es Verschwundene Wörter des Mittelalters, die Michael Schwarzbach-Dobson in den Mittelpunkt seines ebenso informativen wie vergnüglich zu lesenden Buchs stellt.
Zugegeben – einige der erläuterten Wörter sind nicht ganz so verschwunden, wie der Titel es suggeriert, denn auch wenn wir unsere heutigen Liebesbeziehungen wohl nicht mehr unter minne subsumieren würden und in aller Regel keine brünne tragen, können die meisten von uns im historischen Kontext noch etwas mit den Ausdrücken anfangen. Andere, etwa wert für „Insel“, sind zumindest noch Ortsnamen wie Kaiserswerth erhalten und dadurch nicht ganz unbekannt, aber spätestens bei lîtgebe (ein Wirt, der vielleicht auch lît, einen Obstwein, ausschenkt) oder kunter (ein Monster oder Tier, das allerdings sprachhistorisch nichts mit kunterbunt zu tun hat und ebendas dementsprechend auch nicht sein muss) wird es schon kniffliger.
Die verschiedenen Begriffe sind dabei zu sechs unterschiedlich umfangreichen Kapiteln zusammengefasst, in denen dann lexikonartig die einzelnen behandelten Wörter in alphabetischer Reihenfolge erscheinen. Passend zu dem, was die meisten mit dem (Hoch-)Mittelalter assoziieren, bilden den Einstieg Rittertum und Kampf, gefolgt von den Bereichen Familie und Soziales, Kultur und Religion, Alltag und Handwerk, Natur und Medizin sowie Liebe und andere Gefühle.
Wer befürchtet, dass solch eine Auflistung von Wörtern und zugehörigen Erklärungen notwendigerweise trocken und auf die Dauer zäh gerät, irrt übrigens, denn Schwarzbach-Dobson schreibt unterhaltsam und mit vielen Rückgriffen auf die spätere Mittelalterrezeption (von Wagner bis zum Herrn der Ringe), so dass sich auch für ein Publikum, das sich mit Epoche und Sprache noch nicht näher befasst hat, zahlreiche Anknüpfungspunkte finden.
Daher lassen sich die Verschwundenen Wörter des Mittelalters auch als zwangloser Einstieg ins Mittelhochdeutsche, die Welt, der es entstammt, und seine Literatur nutzen, denn der Autor erläutert nicht nur mit leichter Hand sprachliche Themen wie etwa die zweite Lautverschiebung, sondern zitiert auch immer wieder jeweils im Original und in Übersetzung aus allen möglichen mittelhochdeutschen Werken, wobei ein gewisser Schwerpunkt auf Heldenepik und Artusromanen zu liegen scheint (alle, die aus der germanistischen Mediävistik kommen, werden hier also viele alte Bekannte wiedertreffen, während fachfremde Interessierte erste Einblicke in die literarischen Welten des Mittelalters erhaschen können). Durch diese Auswahl wird noch einmal unterstrichen, was Schwarzbach-Dobson auch explizit hervorhebt: Das Mittelhochdeutsch, über das wir am meisten wissen, ist das einer größtenteils von Geistlichkeit und Adel geprägten Dichtung.
Ein lehrreiches, angenehm lesbares und oft auch humorvolles Buch also – aber noch mehr als das, denn der ansprechende Inhalt ist auch in eine besonders nette äußere Form gebracht worden. Die Buchgestaltung von Clara Neumann (die, gerade für ein Sachbuch eher ungewöhnlich, mit blauer Schrift arbeitet) und die Illustrationen von Adèle Verlinden, die leuchtend bunt auf moderne und frische Art mittelalterliche Vorbilder aufgreifen, machen Verschwundene Wörter des Mittelalters zu einem wahren Schmuckstück nicht nur für Mittelalterbegeisterte, sondern auch für alle anderen, die sich für Sprache und ihre enge Verflochtenheit mit Kultur interessieren, und für Bibliophile allgemein.
Michael Schwarzbach-Dobson: Verschwundene Wörter des Mittelalters. Köln, Greven Verlag, 2023, 222 Seiten.
ISBN: 978-3-7743-0963-0