Viking Worlds

Die Lebensumstände in der Wikingerzeit waren nicht nur je nach geographischer Region, sondern auch individuell sehr unterschiedlich. Dementsprechend lautet der Titel des hier vorgestellten englischsprachigen Tagungsbands Viking Worlds, um auf die vielen verschiedenen „Welten“ zu verweisen, in denen sich die unter dem Begriff Wikinger subsumierten Menschen bewegten. In vierzehn Aufsätzen stellen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Forschungen vor, die eine große Bandbreite von Aspekten der Epoche abdecken. Die Beiträge sind dabei lose nach Themenfeldern geordnet: Der Abschnitt Real and Ideal Spaces beschäftigt sich im wahrsten Sinne des Wortes mit den Räumen, in denen sich das Wikingerleben abspielte (von Gebäuden bis hin zu ganzen Landschaften). Der zweite Teil Gendered Things, Gendered Spaces? dreht sich um die Geschlechterrollen, während das dritte Oberkapitel Production, Exchange and Movement Handwerk, Handel und Reisen in den Blick nimmt.
Den Anfang macht noch außerhalb dieser Dreiteilung Neil Price mit einem kurzen Überblick über neue Entwicklungen in der Archäologie der Wikingerzeit, die manch scheinbar festgefügte Annahme ins Wanken bringen; eine besondere Rolle spielt dabei der Fund eines Silberfigürchens im dänischen Hårby. Den Hauptteil des Buchs eröffnet dann Lydia Carstens mit differenzierten Überlegungen zur Entwicklung der herrschaftlichen Halle von der Eisenzeit bis zur Wikingerzeit. Joanne Shortt Butler erläutert am Beispiel des fragmentarisch erhaltenen Gedichts Húsdrápa den Zusammenhang von Literatur, Bildwelten und realen Orten, während Asle Bruen Olsen Versammlungs- und Gerichtsorte der späten Eisenzeit in Norwegen untersucht und Überlegungen dazu anstellt, inwiefern sie prägend für Politik und Justiz im wikingerzeitlichen Island geworden sein könnten. Sofie Laurine Albris zeigt am Beispiel des Sees Tissø auf Seeland und seiner Umgebung auf, was alte Ortsnamen verraten und wie sie bei der Interpretation archäologischer Funde helfen können, wenn schriftliche Quellen fehlen. Besonders spannend liest sich Marianne Hem Eriksens Beitrag über Türringe und ihre symbolische Bedeutung, die sogar die Christianisierung überstand, wie ein prunkvoller Türring aus dem schwedischen Forsa zeigt, der ursprünglich zu einem paganen Heiligtum gehörte und dann den Weg in eine christliche Kirche fand.
Der zweite Teil des Buchs setzt mit Charlotte Hedenstierna-Jonsons Analyse einer Mädchenbestattung im schwedischen Birka ein, die viel über Ernährung, soziale Stellung und geographische Herkunft des früh verstorbenen Kindes verrät. Patrycja Kupiec und Karen Milek widmen sich der Almwirtschaft im wikingerzeitlichen bis mittelalterlichen Island, die in der Sagaliteratur als Domäne der Frauen gilt, in der Realität aber wohl differenzierter zu bewerten ist. Heidi Lund Berg schließlich versieht die Forschungsmeinung, Schlüssel seien das Symbol der wikingerzeitlichen Hausfrau schlechthin, mit einem Fragezeichen; lieber möchte sie die Verfügungsgewalt über Schlüssel als geschlechtsneutralen Hinweis auf Macht und Besitz neu deuten.
Im dritten Teil des Buchs stellt zunächst Bjarne Gaut die Organisation von Wirtschaft und Handel im Frankenreich und dessen Beziehungen zu Skandinavien in den Mittelpunkt. Ben Cartwright dagegen untersucht anhand von Funden aus dem norwegischen Bjørkum die Textilproduktion des Frühmittelalters. Bei Unn Pedersen geht es um die Verarbeitung von Blei, das unter anderem zur Herstellung von Gewichten oder von Zierelementen am Pferdegeschirr genutzt wurde. Eine primär naturwissenschaftliche Herangehensweise wählen Stephen Merkel, Andreas Hauptmann, Volker Hilberg und Robert Lehmann, wenn sie Silberfunde aus Haithabu und Umgebung einer Isotopenanalyse unterziehen und daraus interessante Schlüsse zur Herkunft des Materials insbesondere von Münzen ziehen. Leszek Gardeła schließt das Buch mit einem kritischen Forschungsbericht zum Thema Wikinger in Polen ab und zeigt auf, dass das Etikett „Wikinger“ oft etwas zu leichtfertig verteilt wird, selbst wenn es gute Gründe gibt, Funde anders zu interpretieren.
Viele der Beiträge nehmen sich bei aller Kürze Zeit für Details (faszinierend sind z.B. Cartwrights Hinweise zu Webgewichten und Spinnwirteln, deren Beschaffenheit sich je nach angestrebter Garn- und Stoffart unterschied, oder die Beobachtungen zu unerwarteten Stilmischungen, die Pedersen bei Bleibesätzen macht). Aus dieser Fülle von Einzelheiten setzt sich kaleidoskopartig ein Gesamtbild zusammen, das durch seine Vielfalt besticht und beweist, dass sich die Wikingerforschung gerade in einer spannenden Umbruchsphase befindet.

Marianne Hem Eriksen, Unn Pedersen, Bernt Rundberget, Irmelin Axelsen und Heidi Lund Berg (Hrsg.): Viking Worlds. Things, Spaces and Movement. Oxford / Philadelphia, Oxbow Books, 2014, 234 Seiten.
ISBN: 978-1789252101


Genre: Geschichte