Das Gebiet, über das Karl der Große herrschte, ist selbst nach heutigen Maßstäben recht ausgedehnt, war aber angesichts der Verkehrs- und Kommunikationsmittel, die dem Frühmittelalter zur Verfügung standen, schier riesig. Die Frage Wie regierte Karl der Große?, die Steffen Patzold zum Titel seines eleganten, in ansprechend gestalteter Buchform erschienenen Essays macht, stellt sich also schon in rein praktischer Hinsicht, und die Antwort, die der Autor darauf findet, ist bestechend einfach: mithilfe von Listen.
Gemeint sind damit keine schlauen Winkelzüge (obwohl man auch mit denen bei Karl vielleicht hätte rechnen müssen), sondern für die karolingerzeitliche Herrschaftspraxis alles andere als unwichtige Auflistungen von Personen, materiellen Gütern und so manchem mehr. Listen zu nutzen, um Wissen zu ordnen, ist dabei nichts so allgemein Menschliches, wie man annehmen könnte, sondern, wie Patzold herausarbeitet, eng mit dem Phänomen der Schriftkultur verknüpft, so dass er das in der älteren Forschung vorherrschende Bild eines primär von Mündlichkeit geprägten Frühmittelalters für bestenfalls fragwürdig hält, zumindest, was den Bereich von Politik und Verwaltung betrifft.
Im eigentlichen Zentrum der Betrachtung stehen zwei Arten von Listen, einerseits diejenigen, die „Karl, der listenreiche“ (wie Patzold ihn in augenzwinkernder Anspielung auf die Odyssee in einer Kapitelüberschrift nennt), selbst einforderte, um einen Überblick etwa über die Ausstattung bestimmter Landgüter (bis hin zur Anzahl der vorhandenen Speckseiten) oder eine Zusammenstellung der Namen sämtlicher Männer, die ihm Treue geschworen hatten, zu bekommen, andererseits – was stärker überraschen mag – die Kapitularien des Herrschers, die Patzold nicht als eigene Textgattung, sondern ganz wörtlich als „Kapitellisten“ verstanden wissen möchte, also als Listen oft sehr heterogener Verlautbarungen, die vom konkreten Erlass bis hin zu predigthaften Ermahnungen zu christlicher Lebensführung allerlei enthalten konnten.
Letztere Überlegung mag manchem vielleicht zu theoretisch sein, aber durch die Quellenbeispiele, die immer wieder zitiert werden, erfährt man schlaglichtartig auch einiges über den Alltag in der Karolingerzeit, ganz gleich, ob es nun um das Inventar eines Fiskalguts in Nordfrankreich, die Zusammensetzung einer Bauernfamilie in der Nähe von Marseille oder – fern von Karls Reich, aber ihm trotzdem wichtig genug für eine Liste – Kirchen und Geistliche im Heiligen Land geht.
Typisch für Patzold ist die Begeisterung, mit der er den möglichen Umgang historischer Persönlichkeiten mit Errungenschaften der Moderne imaginiert: Äußert er in seiner Einhard-Biographie Ich und Karl der Große die Ansicht, dass es ihm, wäre es denn möglich, Freude machen würde, sich mit Einhard auf einen „Becher Milchkaffee“ zu treffen, stellt er sich hier vor, wie begeistert Karl der Große wohl von Excel-Tabellen gewesen wäre – und welchen Schaden (bis hin zur Errichtung einer wahrhaft dystopischen Diktatur) der Karolingerherrscher hätte anrichten können, wenn ihm zur Überwachung seiner Untertanen heutige Technik zur Verfügung gestanden hätte. Da das glücklicherweise nicht der Fall war, musste er sich auf seine Listen beschränken, aber die liefern durchaus Stoff für anregende Überlegungen, wie der schmale, aber gehaltvolle Band eindrucksvoll beweist.
Steffen Patzold: Wie regierte Karl der Große? Köln, Greven Verlag, 2020, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-7743-0929-6