Zwischen Baiern und Schwaben

Das frühe Mittelalter war vielerorts eine Zeit der politischen, sozialen und religiösen Transformationsprozesse, so auch in Augsburg und dem Lechtal, das heute als traditionelle Grenzregion Zwischen Baiern und Schwaben gilt. Die Frage, ob ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer der beiden Gruppen schon in dieser Epoche eine Rolle für die eigene Identität spielte, wirft der Begleitband zur gleichnamigen archäologischen Ausstellung zwar in der Einleitung durchaus auf, kann sie aber nicht beantworten. Das ist jedoch alles andere als eine Enttäuschung, denn stattdessen wartet das reich bebilderte Buch mit einer Fülle interessanter Beiträge auf, denen es gelingt, die Vielfalt des Frühmittelalters und auch die Fortschritte der Forschung in ansprechender Form zu präsentieren.

Nach einer Einführung des Herausgeberteams Ursula Ibler, Volker Babucke und Alice Arnold-Becker stellt Sebastian Gairhos in Augsburg in spätrömischer Zeit die Ausgangssituation vor, die in der Region vor dem Übergang ins Frühmittelalter herrschte, und skizziert zur Charakterisierung des Einsetzens der neuen Epoche nicht nur wichtige Veränderungen in der Stadt selbst (so die Verlagerung ihres Kerns vom aufgelassenen Forum der Römerzeit in die Umgebung der Bischofskirche), sondern schildert auch die Beschaffenheit ihres Umlands, in dem viele der Fundorte liegen, die später im Band noch eine Rolle spielen.

Wie die archäologische Beschäftigung mit dem Frühmittelalter im Lechtal einsetzte, stellt Hubert Fehr differenziert in seinem Beitrag „… die Hauptfrage, welcher Zeit und welchem Volke dieser Leichenacker zu attribuiren sey …“ dar: Schon 1843 kam es zur Entdeckung des Gräberfelds von Nordendorf, das sich heute vor allem wegen der dort auf einer Fibel entdeckten Runeninschrift überregionaler Bekanntheit erfreut. Ist manches an der frühen Erforschung heute noch beeindruckend (etwa die detaillierten kolorierten Fundzeichnungen von Thekla Crescentia Sedlmaier), anderes eher amüsant (so die Hypothese, in einer Steinperle eine Hand-Abkühlungs-Kugel für feuchte Damen-Hände vorliegen zu haben), wird zugleich leider auch deutlich, wie schnell nationalistische und rassistische Interpretationen schon im 19. Jahrhundert in die Deutungen eindrangen und damit verheerenden Entwicklungen im 20. Jahrhundert den Boden bereiteten.

Christian Later nimmt unter der Überschrift Zwischen Afra und Wikterp das Christentum sowohl in der Spätantike als auch im Frühmittelalter in den Blick und deckt dabei ein beachtlich weites Themenfeld von Artefakten mit christlicher Symbolik über Klerikergräber bis hin zu Kirchenbauten in der Stadt wie auf dem Land ab. In der Zusammenschau mit dem ersten Aufsatz des Buchs zeigt sich aber eine der Tücken von Bänden mit vielen Mitwirkenden, nämlich, dass Überschneidungen und Wiederholungen, über die man bei einer kontinuierlichen Lektüre des Buchs stolpert, sich nicht vermeiden lassen (wenn hier auf S. 47 in leicht veränderter Größe noch einmal dieselbe Abbildung einer Glasschale des 4. Jahrhunderts, die Adam und Eva am Baum der Erkenntnis zeigt, wie auf S. 21 auftaucht).

Die Gräber des frühen Mittelalters im Lechtal sind das Thema von Stephanie Zintl, die erst einmal das Phänomen der für die Frühmittelalterarchäologie so wichtigen Reihengräberfelder überregional umreißt, um sich dann noch einmal mit dem weiter oben im Buch schon unter forschungshistorischer Perspektive betrachteten Nordendorf und weiteren Fundorten zu befassen. Dabei zeigt sie auf, dass – wie in der Forschung der letzten Jahre auch anderswo betont – die Wissenschaft heute das häufige Phänomen schon zeitgenössisch wieder geöffneter Gräber weniger pauschal als „Grabraub“ verbucht, als das über lange Zeit geschehen ist, weil von Fall zu Fall auch andere Motive als eine schlichte Bereicherungsabsichten dahintergestanden haben mögen.

Besondere Gräber behandelt Anja Gairhos, nämlich die sogenannten „Separatfriedhöfe“, die bisher oft als gesonderte Bestattungsplätze einer Elite interpretiert wurden, die ab dem späten 6. Jahrhundert ihre Toten nicht mehr wie bisher inmitten der allgemeinen Reihengräberfelder beisetzte. Doch so einfach ist der Fall vielleicht gar nicht, und so versucht Gairhos an verschiedenen Beispielen für kleinere Friedhöfe auszuloten, was diese ausgemacht haben könnte und ob wirklich immer eine gezielte Abgrenzung vom Rest der Gesellschaft vorlag.

Einen speziellen Grabfund beleuchtet ein zweiter Beitrag von Stephanie Zintl, nämlich Eine Kriegerdarstellung aus Rain am Lech, die sich auf Pressblechen an Riemenzungen aus einem Frauengrab findet – ein ungewöhnliches Detail, da ikonographisch ähnlich anmutende Kriegerszenen (etwa auf der berühmten Trossinger Leier oder im skandinavischen Raum) zumeist von Gegenständen aus Männergräbern stammen. Interessant sind hier besonders die Überlegungen, inwieweit die Bildkomposition von byzantinischen Vorbildern inspiriert sein könnte.

Sehr kurz bleibt Stephanie Zintls dritter Text Der „Leipheimer Spieler“, der einen reizvollen Fund – ein Spielsteinset mit Würfel als Grabbeigabe eines mit Waffen besetzten Mannes – vorstellt und mit Vergleichbarem aus Gräbern in England und Italien in Beziehung setzt, aber letztlich nur die Seltenheit der Beigabe konstatiert, ohne sich an einer Interpretation zu versuchen, was es damit auf sich haben mag.

Statt der Gräber steht die Welt der Lebenden In der Stadt und auf dem Land bei Volker Babucke im Vordergrund, denn hier geht es um die unterschiedlichen für das Lechtal dokumentierten Siedlungen des Frühmittelalters, von denen manche später komplett aufgelassen wurden, während anderswo – etwa in Augsburg – Kontinuität bis heute besteht. Eine gewisse wirtschaftliche Spezialisierung belegt ein offenbar auf die Weberei konzentriertes Dorf bei Wehringen.

Dies passt recht gut zum folgenden Beitrag, in dem Frühmittelalterlicher Eisenerzbergbau im unteren Lechtal von Bernd Päffgen und Martin dargestellt wird, ist hier doch nicht nur von einer regelrechten Bergbausiedlung westlich von Aichach die Rede, sondern auch eine andere Einschätzung der Befunde von Wehringen, die hier allgemeiner als Handwerkersiedlung (und nicht, wie im vorhergehenden Beitrag, primär als Weberdorf) angesprochen werden, da es offenbar auch eine recht umfangreiche Eisenverarbeitung gab. Die Informationen zu Bergbautechniken und wirtschaftlicher Organisation im Frühmittelalter sind auf alle Fälle lesenswert, leider ist aber eine Grabinschrift, die als Indiz für einen Eisenerzabbau im Lechtal schon in der Römerzeit angesprochen wird, teilweise falsch übersetzt (wenn auch nicht an einer für das Hauptthema des Artikels relevanten Stelle).1

In den Bereich von Wirtschaft und Technik führt auch der letzte Aufsatz: Kristina Seitz und Julia Weidemüller schreiben hier detailliert und leicht verständlich über Frühmittelalterliche Wassermühlen im Paartal und stellen insbesondere die Mühle von Aichach-Oberbernbach, die sich samt Wasserzuleitungssystem vollständig rekonstruieren lässt, mit vielen Grabungsfotos anschaulich vor.

Gerade dass hier neben den Bücher zum Frühmittelalter oft stark dominierenden Grabfunden auch Siedlungsarchäologie und Wirtschaftsgeschichte ein gewisser Raum gegeben wird, macht den Band zu einer Entdeckung für alle an der Epoche Interessierten. Was ihm allerdings fehlt, ist eine Übersichtskarte, aus der die Lage der verschiedenen Fundorte hervorgeht (das geologische Blockprofil auf S. 119 ist der einzige Ansatz dazu). Vielleicht war bei der Ausstellung eher mit einem regionalen Publikum gerechnet, so dass man glaubte, auf diese Handreichung verzichten zu können, aber für eine Leserschaft abseits des Lechtals ist nicht jeder Ortsname spontan einzuordnen, und so wäre es schön gewesen, hier eine Hilfestellung zu bekommen. Für diesen kleinen Mangel entschädigen die schönen Fundfotos und die von Roger Mayrock erstellten Rekonstruktionszeichnungen jedoch voll und ganz.

 Alice Arnold-Becker, Volker Babucke, Ursula Ibler (Hrsg.): Zwischen Baiern und Schwaben. Das Lechtal im frühen Mittelalter. Friedberg, Likias Verlag, 2023, 160 Seiten.
ISBN: 978-3-949257-16-2

  1. Wenn Iulia Sperata coniugi carissimo auf dem Sarkophag eine Grabinschrift setzen lässt, dann tut sie das nicht „als liebste Ehefrau“ (so die Autoren), sondern vielmehr „dem liebsten Ehemann“ (oder, wenn man hier lieber einen Elativ als einen Superlativ vermuten möchte, „dem heißgeliebten Ehemann“), da coniunx als Bezeichnung für den Ehepartner geschlechtsneutral verwendet werden kann und der Dativ sowie die maskuline Form des Adjektivs darauf hindeuten, dass hier der Mann, Publius Frontinus Decoratus, gemeint ist.

Genre: Geschichte