Julija Orel, genannt Jule, hat nicht gerade das große Los gezogen: Mit dem Ruf (einer Art inhärenter Magie), aber in kleinen Verhältnissen geboren, hat sie es nie über den Rang einer drittklassigen Beschwörerin in Staatsdiensten hinausgebracht und ist in dieser Funktion als Mitglied einer diplomatischen Mission nun auch noch gewaltbereiten Rebellen in die Hände gefallen, die sie zur Kollaboration erpressen wollen. Ihr Zellennachbar im Kerker ist ausgerechnet das gefährliche Monster Mika, das von Menschen herzlich wenig hält. Doch was mit Furcht und Abneigung beginnt, wird schnell mehr als nur ein Zweckbündnis, um die Freiheit wiederzuerlangen, in der Jule sich dann allerdings unversehens allein wiederfindet. Kaum ist sie zurück in ihrer vermeintlich von göttlich verehrten Avataren beschützten Heimatstadt Arges (in der, wie der Name schon suggeriert, tatsächlich einiges im Argen liegt), interessiert sich auf einmal die gefürchtete Geheimpolizei für sie, und auch von anderer Seite werden plötzlich lebensverändernde Entscheidungen für sie getroffen. Hilfe scheint ihr der geheimnisvolle Kestrel anbieten zu wollen, von dem Jule sich kaum minder angezogen fühlt als von Mika, aber was hat es mit ihm wirklich auf sich? Nur eines scheint bald gewiss zu sein: Was Jule bevorsteht, ist etwas ganz anderes als das langweilige, aber sichere Dasein, das sie sich immer ausgemalt hat …
Marie Meiers Debütroman Seelengrube ist mitreißende Science Fantasy, die nicht nur eine packende Geschichte, sondern auch und vor allem ebenso lebendig wie glaubwürdig geschilderte Figuren und einen durchdachten Weltenbau zu bieten hat. So futuristisch und phantastisch die in die Höhe gebaute Stadt Arges dabei auch auf den ersten Blick anmuten mag, eigentlich ist sie ein übersteigertes, sozialkritisches Spiegelbild unserer Gegenwart. Werden in unserer Welt einzelne Ortschaften dem Tagebau oder der Hafenerweiterung geopfert, sind es hier schon einmal ganze Planeten, deren Bevölkerung wirtschaftlichen Interessen weichen muss, und mögen sich in der Realität Wohlhabende in Gated Communitys vom Rest der Menschheit abgrenzen, sind es hier komplette Stadtebenen, für die rigide Zugangsbeschränkungen für die einfachen Leute gelten.
Solch ein System krasser Ungleichheit kann natürlich nur funktionieren, solange diejenigen, die auf seiner Schattenseite stehen, zumindest ansatzweise das Gefühl haben, auch etwas vom guten Leben abbekommen zu können – sei es nun durch die unwahrscheinliche Chance auf einen wortwörtlichen Aufstieg (exemplarisch vorgeführt an Jules Freundin Amy, die nicht nur für eine gefährliche Show schwärmt, deren Gewinnern genügend Geld für ein Entkommen aus den Slums winkt, sondern auch selbst ganz handfest hofft, es durch eine Ehe mit dem richtigen Partner weiter nach oben zu schaffen) oder durch ein gewissen Maß an Brot und Spielen, respektive Pizza, reichlich Alkohol und Streamingdiensten. Apropos Brot und Spiele: Das alte Rom hat als Inspirationsquelle für so manches in Arges gedient, von den militärischen Dienstgraden über die zahlreichen lateinischen Bezeichnungen und den kaum verhohlenen Imperialismus bis hin zur gesellschaftlichen Gliederung selbst, die ja auch in Rom durch die ganz explizite Kopplung bestimmter Vermögensklassen an das Maß von sozialem und politischem Einfluss geprägt war.
Nicht zuletzt dank dieser Hintergründe ist Seelengrube auch ein Roman über Zwänge und Unfreiheit, und es ist fast ironisch, dass die von Erniedrigung und Folter geprägte Gefangenschaft im Kerker, mit der das Buch einsetzt, nur die offensichtlichste, aber vielleicht nicht einmal die umfassendste Form mangelnder Selbstbestimmung ist. Nicht körperlich hinter verschlossenen Türen eingesperrt zu sein, bedeutet noch lange keine echte Freiheit, und so ist es kein Wunder, dass im Lauf der Handlung immer deutlicher im Gebälk zu knirschen beginnt und die sonst überwiegend unterschwellig ausgeübte Gewalt und Gegengewalt auch in unerwarteten Situationen (wie auf der Herrentoilette beim Opernbesuch) plötzlich schockierend hervorbricht.
Die in diese Welt geworfene Jule hat sich durch ihre Begabung und die dadurch möglich gewordene Bildung von ganz unten hochgearbeitet, aber bis zum Beginn des Romans eben nur an eine gewisse Stelle, und das nicht aus fehlendem Talent, sondern infolge der Mechanismen der Gesellschaft (und nicht zuletzt auch der dadurch ausgelösten Minderwertigkeitskomplexe). Als Kind der städtischen Unterschicht, mit der sie noch durch wiederkehrende Albträume, aber auch durch ihren guten Kumpel Florence (der im Lokal seiner Familie schuften muss) verbunden ist, kann sie den Spielregeln der Mittelschicht, der sie nun nominell angehört, nicht komplett genügen, und in der Welt der Reichen und (nicht unbedingt von Natur aus) Schönen, in die sie gelegentlich situationsbedingt katapultiert wird, wirkt sie noch verlorener. Weckt das schon Sympathie und Mitgefühl, funktioniert Jule als Hauptfigur aber auch deshalb so gut, weil sie noch nicht einmal eine klassische Underdog-Heldin ist, sondern schlicht und einfach als sehr fehlbar und menschlich geschildert wird.
Die spannende Handlung spielt mit einigen literarischen Motiven nicht allein aus Science Fiction und Fantasy (wer glaubt, dass nur Novellen ihren Falken haben, wird leider feststellen müssen, dass es auch in einem Roman nicht unbedingt besser für das arme Tier ausgeht als bei Boccaccio), hält aber bis zum Schluss immer wieder Überraschungen bereit und lässt, wie es sich für einen Reihenauftakt gehört, viele Fragen offen. Nicht nur deshalb ist man neugierig auf die Folgebände. Auch die wunderschöne äußere Aufmachung des Buchs, das in Illustrationen von Johanna Lehmert Tätowierungen, Kostüme und Symbole der Welt von Arges bildlich eindrucksvoll darstellt, macht Lust auf mehr.
Marie Meier: Seelengrube. Der letzte Schlüssel 1. Ahrensburg, tredition, 2025, 342 Seiten.
ISBN: 978-3-912037-00-5