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Hausboottage

Eve hat gerade ihre prestigeträchtige Stelle in einem Technikunternehmen, die bisher ihr Lebensinhalt war, verloren. Sally hat sich nach langer Ehe und reichlich stiller Unzufriedenheit entschlossen, ihren wenig verständnisvollen Mann zu verlassen. Die beiden Frauen begegnen sich auf einem Treidelpfad am Kanalufer und werden auf einen auf einem Hausboot jämmerlich heulenden Hund aufmerksam. Der ziemlich handfeste Befreiungsversuch, den Eve und Sally unternehmen, endet nicht nur mit einem vorerst verschwundenen Hund, sondern auch damit, dass sie mit seiner exzentrischen Besitzerin Bekanntschaft schließen, der alten Anastasia, die auf dem Hausboot lebt, nun aber aufgrund einer Krebsdiagnose in einer unschönen Lage ist: Ihr Boot zu der Werft fahren, auf der es dringend überholt werden muss, und den unbedingt notwendigen Krankenhausaufenthalt antreten, kann sie nicht gleichzeitig. Spontan beschließen Eve und Sally, die Überführung des Boots zu übernehmen, und so sind sie bald darauf tatsächlich auf dem Wasser unterwegs. Dabei gewinnen sie nicht nur in praktischer Hinsicht Kenntnisse hinzu (von Schleusenbewältigung bis Klappstuhlrettung), sondern lernen auch Englands Kanalsystem, einander und sich selbst immer besser kennen. Doch wie soll es weitergehen, wenn die kleine Flucht aus dem Alltag irgendwann unweigerlich ihr Ende findet?

Wie schon in ihrem wunderbaren Debüt Das Versprechen, dich zu finden schildert Anne Youngson in Hausboottage den in nicht mehr ganz jugendlichem Alter gewagten Ausbruch zweier Figuren aus eingefahrenen Bahnen und reichert die Gegenwartshandlung mit einer Auseinandersetzung ihrer Charaktere mit Historischem an. Denn neben Eves und Sallys (und im Laufe des Buchs immer stärker, wenn auch zunächst nur im Hintergrund, Anastasias) jeweiliger Geschichte spielt auch immer wieder die Vergangenheit der Kanäle eine Rolle, die einst ein wichtiger Wirtschaftsfaktor und Arbeitsplatz für viele Menschen waren, jetzt aber nach dem überwiegenden Niedergang der kommerziellen Binnenschifffahrt eher das Revier von Freizeitskippern, Aussteigern, Kriminellen und schrägen Gestalten sind.

So manchen von ihnen begegnen Eve und Sally auf ihrer Fahrt, denn sie bleiben nicht die ganze Zeit über allein, sondern haben gelegentlich Gäste an Bord (so etwa den rätselhaften Arthur, der Anastasia näher zu kennen scheint, als beide zunächst zugeben möchten) oder finden neue Bekannte wie das junge Pärchen Trompette und Billy, das auf seinem Boot ein unbeschwertes Künstlerdasein zu führen scheint, hinter dem sich aber durchaus auch Unschönes verbirgt.

Überhaupt begeht Youngson nicht den Fehler, das Aussteigerleben auf dem Wasser als eskapistische Phantasie zu romantisieren, sondern macht immer wieder deutlich, dass ein Wechsel vom Land aufs Hausboot einem nicht nur Sorglosigkeit beschert, sondern mit zahlreichen Problemen behaftet ist, seien es nun so banale, wie das Boot permanent fahrtüchtig und auch sonst in Schuss zu halten, oder gravierendere wie Ärger aller Art mit den Behörden. Manches kann dem fröhlichen Herumvagabundieren sogar im Handumdrehen ganz ein Ende setzen oder es sehr einschränken, sei es nun eine schwere Krankheit wie die, mit der Anastasia sich herumschlägt, oder schlicht das eigene Verantwortungsbewusstsein, das in Arthurs Fall nachvollziehbarerweise verhindert, dass er auf die Art, die er sich vielleicht erträumt haben mag, sein Glück findet.

Trotz dieser ernsten Aspekte sind die Hausboottage ein durchaus hoffnungsvoller, dabei auf ruhige Art sehr unterhaltsamer und phasenweise sogar urkomischer Roman (nicht ohne Grund evoziert wohl der englische Originaltitel, Three Women and a Boat, Jerome K. Jeromes berühmte Three Men in a Boat). Die schöne Übersetzung von Edith Beleites lässt einen dabei immer wieder vergessen, dass man das Buch nicht in seiner Originalsprache liest. Nicht nur als Sommerlektüre ist Anne Youngsons zweiter Roman also wärmstens zu empfehlen und ein großes Lesevergnügen.

Anne Youngson: Hausboottage. Hamburg, HarperCollins, 2022, 352 Seiten.
ISBN: 978-3-7499-0355-9


Genre: Roman

Das Versprechen, dich zu finden

Vor fünfzig Jahren gehörte Tina Hopgood zu einer Schulklasse, der der dänische Professor Glob sein Buch Die Schläfer im Moor widmete. Durch den Tod ihrer besten Freundin daran erinnert, dass sie beide nie ihren Plan umsetzen konnten, eine der in dem Buch vorgestellten Moorleichen, den Tollund-Mann, in natura zu sehen, schreibt sie mit der Bitte um weitere Informationen an Glob. Doch der Professor ist längst verstorben, und so beantwortet der Museumskurator Anders Larsen, der selbst gerade einen herben Verlust erlitten hat, den Brief der englischen Bäuerin. Bald entspinnt sich eine rege Korrespondenz, in der Tina und Anders sich nicht nur über die Eisenzeit, sondern auch und vor allem über ihre Arbeit, ihre Familien, unverwirklichte Lebensträume und verpasste Chancen austauschen. Doch Tina ist verheiratet, und so kann aus dieser Brieffreundschaft eigentlich nicht mehr werden – oder etwa doch?

Das Versprechen, dich zu finden, das Debüt der siebzigjährigen Autorin Anne Youngson, ist ein stiller und sehr menschlicher Briefroman mit einem unglaublich feinen Gespür für Zwischentöne. Große äußere Abenteuer erleben die beiden Protagonisten nicht, aber Youngson beherrscht die Kunst, mit treffenden Charakterisierungen und intensiven Beschreibungen Alltägliches so spannend zu machen, dass man auch dann fasziniert weiterliest, wenn es vordergründig nur um einen gestrickten Teewärmer oder die tägliche Fahrradfahrt geht. Zwischen dem auch körperlich strapaziösen Landleben der früh in eine wenig erfüllende Ehe gedrängten Tina und der ruhigen Bürotätigkeit des Archäologen Anders liegen eigentlich Welten, was sich nicht allein in der Kontrastierung von englischen und dänischen Einrichtungsvorlieben widerspiegelt. Beide eint allerdings die Erfahrung, in ihren Familien nie ganz zu der ersehnten Nähe gefunden und überhaupt manch schöne Seite des Lebens verpasst zu haben – von Tina charmant in das Bild des Himbeerpflückens gefasst, bei dem man zunächst immer einige Früchte übersieht. Gemeinsam ist ihnen aber trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweise auch ein reges Interesse an der Vergangenheit, und so gibt es neben den lebenden oder erst jüngst verstorbenen Menschen ihres jeweiligen Umfelds im Buch noch eine weitere wichtige Figur, nämlich den stets mehr oder minder präsenten Tollund-Mann.

In der Literatur werden Mumien sonst häufig als Gruselelement eingesetzt. Youngsons Ansatz dagegen ist dankenswert weit davon entfernt und bietet eine äußerst sensible Auseinandersetzung mit dem Toten aus vorgeschichtlicher Zeit, der durch die perfekte Erhaltung seines Gesichts zu Identifikation und allerlei Projektionen anregt, aber seine Geheimnisse dennoch bewahren darf. Eine fiktive Geschichte wird ihm hier nämlich nicht übergestülpt. Stattdessen wird klar zwischen den gut recherchierten Fakten und jeglichen Spekulationen getrennt und bei aller Faszination von dem archäologischen Fund immer wieder darauf hingewiesen, dass man es mit den Überresten eines Menschen zu tun hat. Diese respektvolle und feinfühlige Perspektive berührt tief, und insbesondere eine Szene, in der Anders Tina die Reaktion einer kleinen Museumsbesucherin auf die Moorleiche schildert, kann einen bei der Lektüre mitten ins Herz treffen – vermutlich selbst dann, wenn man die Archäologiebegeisterung der Rezensentin nicht teilt.

So ist Das Versprechen, dich zu finden alles in allem ein sehr kluges, unprätentiöses und schönes Buch, das die Gefühle anspricht, ohne je in Kitsch abzugleiten, und einen zum Nachdenken über das eigene Leben und das längst vergangener Generationen anregt.

Anne Youngson: Das Versprechen, dich zu finden. Hamburg, HarperCollins, 2018, 272 Seiten.
ISBN: 978-3959672276


Genre: Roman