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111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku

Erst Anfang des Jahres ist mit den 17-Silben-Krimis Heike Ballers dritter Haiku-Band erschienen. Schon jetzt meldet sie sich mit einer vierten Gedichtsammlung zurück, den 111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku, die mit 128 Seiten den bisher umfangreichsten Teil ihrer Reihe bilden und auch inhaltlich noch mehr zu bieten haben als die bisherigen Einträge.

Eine aufgeschlagene Seite aus dem Buch "111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku" von Heike Baller mit dem Haiku "Die grauen Wolken / Bleiben heut' leere Versprechen - / Sol invictus".

Ein Blick ins Buch …

Zugegeben: Die beiden ersten Bände mit ihren überwiegend Natur und städtischer Umwelt gewidmeten Haiku und der dritte mit seinen genial komponierten Miniaturkrimis sind eigentlich schon so stark, dass eine Steigerung kaum noch möglich scheint, aber hier weiß Heike Baller noch einmal besonders zu überraschen: durch verstärkte aktuelle Bezüge, die zu den bewährten Momentaufnahmen treten, durch einzelne Haiku in Fremdsprachen und immer wieder auch durch augenzwinkernde literarische und (kultur-)historische Anspielungen.

So wird etwa in dem oben im Bild gezeigten Gedicht der Name der römischen Sonnengottheit Sol invictus in seiner ganz wörtlichen Bedeutung – „unbesiegte Sonne“ – gebraucht, um dem ausbleibenden Regen nicht nur eine mythologische Aura zu verleihen, sondern auch unterschwellig die Frage aufzuwerfen, ob Regen immer „schlechtes“ und Sonne „gutes“ (und nicht etwa durchaus „besiegenswertes“) Wetter bedeutet. Denn der Klimawandel, dessen Auswirkungen heutzutage auch in Mitteleuropa schon in beiläufigen Naturbeobachtungen offen zutage treten, kann einem scharfen Blick wie dem Heike Ballers natürlich nicht entgehen und ist ein wiederkehrendes Motiv in ihren Haiku.

Auch abseits davon darf man aber nicht damit rechnen, sich behaglich in Schönheit einrichten zu dürfen: Eine Dichterin, die mutig genug ist, Schmetterling und Hundekot zu kombinieren bzw. zu kontrastieren und ohnehin oft mit ironischen Brechungen zu arbeiten, scheut sich auch nicht, die ernstesten Themen anzupacken. So schlagen etwa die brutalen Bombardements im Ukrainekrieg in die scheinbar friedliche Atmosphäre eines mit einer Himmelsschilderung einsetzenden Haiku ein und reißen einen gnadenlos aus dem, was zunächst eine angenehme Naturträumerei zu sein scheint.

In die vielen Wald-, Feld- und Stadtimpressionen stehlen sich neben solch dramatischen Bezügen aber auch immer wieder Beobachtungen, die viel über die Unzulänglichkeiten und Grausamkeiten des scheinbar ganz normalen Alltags verraten, ganz gleich, ob es nun um vergessenes Kinderspielzeug, im Tierheim zurückgelassene Hunde oder verrottende Infrastruktur geht. Dass der Schlusssatz doppeldeutig – Tageszeit der geschilderten Beobachtung oder Einschätzung der Gesamtsituation? – Es ist 5 vor 12 lautet, passt daher sehr gut.

Neben Pointiertem und Verstörendem steht aber auch Zartes, Poetisches und ungeheuer sensibel Eingefangenes, wenn etwa der November als Goldschmied den Wald mit Gold-Blatt-Gold schmücken darf, Blütenduft sich unverdrossen gegen das Märzhimmelgrau (eine von vielen einprägsamen Wortschöpfungen) behauptet oder die Natur sich einen Weg zurück ins Menschengemachte sucht (z. B. in einen Blechbriefkasten, der mitsamt dem neuen Leben in ihm ebenso im Foto präsent ist wie die Inhalte einzelner anderer Haiku). Der Humor kommt auch nicht zu kurz, denn was es mit einer unversehens fern der Küste auftauchenden Kegelrobbe letzten Endes auf sich hat, bringt einen genauso zum Schmunzeln wie eine vergnüglich geschilderte Froschbegegnung.

In all seiner Vielschichtigkeit ist der Band also eine Aufforderung, Gedanken spazieren zu lassen, sei es nun durch die äußere Welt samt Tod und Leben oder auch durch die Literatur, die etwa in einem Aufgreifen des berühmten Lindenlieds Walthers von der Vogelweide oder einer Anspielung auf das oft Martin Luther zugeschriebene Zitat über das Pflanzen eines Apfelbäumchens präsent ist.

Wer schon länger bei Heike Baller mitliest, kann zudem neue Bezüge innerhalb ihres lyrischen Werks entdecken (die crisply cold air eines ihrer frühesten englischen Haiku bekommt hier noch einmal einen Auftritt zusammen mit einem aufgeplusterten Rotkehlchen).

Allen, die sich gern von Sprache und ihren Möglichkeiten faszinieren lassen und keine Angst haben, sich dabei auch in unbekannte und bisweilen unbequeme Richtungen führen zu lassen, seien die 111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku, die absolut nicht so gewöhnlich sind, wie der Titel suggerieren könnte, daher wärmstens ans Herz gelegt.

Heike Baller: 111 Feld-, Wald- und Stadt-Haiku. Norderstedt, Books on Demand, 2023, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-7583-1027-0


Genre: Anthologie

17-Silben-Krimis

Unter einem Krimi stellt man sich meist einen Roman oder doch zumindest eine komplette Geschichte vor (ob nun in schriftlicher Form oder – wie bei den zahlreichen Krimis in Film und Fernsehen – in einem anderen Medium). Dass es auch kürzer geht, beweist Heike Baller in 17-Silben-Krimis, ihrem frisch erschienenen dritten Haiku-Band.

Die Bücher "Mein Jahr in Haiku", "Stadt-Natur" und "17-Silben-Krimis" von Heike Baller liegen auf einem beigefarbenen Hintergrund.

Nicht nur das Thema ist ein anderes als in Mein Jahr in Haiku und Stadt – Natur mit ihren philosophischen Natur- und Zivilisationsbetrachtungen. Heike Baller hat, wie sie im Nachwort erläutert, auch noch einmal überdacht, was die Gedichtform Haiku für sie eigentlich ausmacht, und löst sich von dem strengen Silbenschema 5 – 7 – 5 in den drei Versen, da es das japanische Vorbild gar nicht widerzuspiegeln vermag. Wichtig sind ihr jetzt nur noch, wie der Titel schon ahnen lässt, die siebzehn Silben pro Gedicht – und diese Kurzlyrik, wieder gewohnt minimalistisch mit nur einem Gedicht pro Seite und gelegentlich mit einer ebenfalls ganzseitigen Foto-Illustration präsentiert, hat es diesmal in sich.

Wie es sich für Krimis gehört, wird hier gemordet, teils mit so absurd kreativen Methoden, dass es schon fast wieder witzig ist (wenn eine Apnoe-Taucherin zuschlägt, es den Priester mitten im Gottesdienst erwischt oder ein Dekorationsstück endlich seiner eigentlichen Bestimmung als Waffe dienen darf), oft aber auch bitterernst und nachdenklich stimmend, wenn es Opfer wie Obdachlose, Kranke oder Pflegebedürftige trifft, die ohnehin schon zu den Hilflosesten der Gesellschaft gehören. Hier werden in wenigen Worten Szenarien heraufbeschworen, die Ängste ansprechen, die wohl jeder Mensch – ob nun eingestanden oder nicht – mit sich herumträgt, und wirken lange nach. Denkanstöße können Miniaturkrimis also ebenso gut liefern wie Naturgedichte.

Ohnehin besteht ein besonderer Kunstgriff dieser Haiku-Sammlung darin, den Krimi oft nur im Kopf stattfinden zu lassen und gar nicht explizit zu sagen, was genau geschehen ist. Perfekt zeigt sich dieses Vorgehen etwa bei dem Gedicht auf S. 49:

Das Handy klingelt.
Ins Leere, am offnen Fenster
im zehnten Stock.

Nüchtern betrachtet erfährt man hier so gut wie nichts über die Situation und ihre Hintergründe, aber beim Lesen fügt man in Gedanken natürlich sofort einen Fenstersturz aus großer Höhe und die traurige Vermutung, dass es hier nicht um einen Unfall geht, hinzu.

Doch keine Sorge: Nicht jeder Dreizeiler suggeriert oder bestätigt einen tödlichen Ausgang des Geschehens. Man bekommt es auch mit einem Schmuckdiebstahl, einer fiesen Katzen-Entführung und einem betrügerischen Galeristen zu tun, daneben auch immer wieder mit Historischem und Humoristischem.

Wie gewohnt erweist sich Heike Baller als Meisterin des Sprachspiels (wenn etwa „Streitende“ auf ein unschönes „Streit-Ende“ zusteuern) und der unerwarteten Pointen und Brüche. Durfte in ihren früheren Haiku schon einmal ein Müllwagen die idyllische Naturstimmung ruinieren, wird auch hier oft der zunächst erweckte Eindruck konterkariert, teils sehr boshaft und schwarzhumorig, so dass man mit etwas schlechtem Gewissen lacht, teils aber auch durch ein jähes Kippen ins Unblutige und Unschuldige, wenn sich nach düster aufgebauter Spannung die Situation im letzten Vers als viel harmloser als gedacht erweist.

Das alles ist ein großes Lesevergnügen, das einen immer wieder über den gekonnten Einsatz der Worte und die überbordende Ideenfülle dahinter staunen lässt, aber keines, das man unbedingt in einem Zug verschlingen muss. Viel mehr Spaß macht es wie schon bei den früheren Bänden, die Haiku häppchenweise zu genießen und ihnen die genauere Betrachtung zu gönnen, die sie verdient haben.

Auf alle Fälle hofft man nach der Lektüre, dass dieses dritte Haiku-Buch nicht das letzte war, sondern irgendwann mit einer genauso furiosen Fortsetzung, zu welchem Thema auch immer, zu rechnen ist.

Heike Baller: 17-Silben-Krimis. 60 nicht nur blutige Haiku. Norderstedt, BoD, 2023, 74 Seiten.
ISBN: 978-3-7347-0650-9

 


Genre: Anthologie

Stadt – Natur

Drei kurze Verse, wie spontan hingeworfen, aber immer durchdacht und voller Esprit – das sind Heike Ballers Haiku, kleine Gedichte nach japanischem Vorbild. Nachdem im letzten Sommer mit Mein Jahr in Haiku die erste Sammlung dieser zarten Poesie mit Tiefgang erschienen ist, folgt nun mit Stadt – Natur der zweite Band.

Der Titel (der den Gegensatz zwischen Stadt und Natur ebenso evoziert wie den Begriff der Stadtnatur) verrät es schon: Heike Baller ist eine begnadete Wortspielerin mit viel Gefühl für sprachliche Zwischentöne. Mehrdeutigkeiten und Assoziationen weiß sie gekonnt einzusetzen, wie etwa dieser Blick ins Buch zeigt:

Blick in das Buch "Stadt - Natur" von Heike Baller (S. 18-19)

Blick ins Buch: Heike Baller: „Stadt – Natur“, S. 18 – 19

Bei der so herrlich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten vermengenden „heruntergekommenen Wolke“ (S. 19) allein bleibt es nicht. Zweimal hinlesen muss man auch bei den oft in unerwartetem Kontext pointiert benannten Kontrasten zwischen Tod und Leben, Stehenbleiben und Vorbeilaufen, aber vor allem eben immer wieder auch Stadt (bzw. Zivilisation allgemein) und Natur.

Dieses Neben-, Mit- und manchmal auch Gegeneinander, das ihre auf täglichen Spaziergängen am Stadtrand gemachten Beobachtungen prägt, in ihren Haiku einzufangen, ist laut Vorwort auch Heike Ballers erklärtes Ziel, und es gelingt ihr gut. Gerade ihr Talent, Naturphänomene in sehr menschliche Begriffe zu fassen und umgekehrt Menschengemachtes auf eine Art zu bechreiben, die einen erst einmal an Natürliches denken lässt, lässt einen oft aufmerken und den gewohnten Blick auf die Dinge hinterfragen.

Daneben gibt es aber auch rein poetische Momente zum Schwelgen, oft eingefangen in liebevollen Wortschöpfungen: „Lichttupfenbestreut“ (S. 37) zeigen sich Wolken, während ein Baum „moosummantelt“ (S. 21) ist, und dem, der hinzusehen weiß, bietet sich eine „Fernblicksillusion“ (S. 24), wenn nicht gerade „das Nebel-Nichts“ (S. 45) alles verhüllt. Besonders sind es immer wieder die differenziert in all ihren Schattierungen geschilderten Farben, die auch dann Bilder heraufbeschwören, wenn das jeweilige Gedicht gerade nicht durch eines der schönen Fotos illustriert wird, die auf manchen Seiten die Haiku begleiten und ergänzen. Das „Kopfkino“ (S. 23) läuft auf alle Fälle nicht nur bei der Dichterin, sondern auch bei denen, die ihre Texte auf sich wirken lassen.

Einlullen lassen sollte man sich davon aber nicht, denn die Erwartung, ein stimmungsvolles Naturbild unverfälscht genießen zu können, wird oft genug enttäuscht (clever gemacht etwa in der „Farbharmonie mit Herbstlaub“, S. 12, deren Quell alles andere als romantisch ist). So bietet der Streifzug in 60 Haiku quer durch die Jahreszeiten immer wieder Überraschungen, und man kann sich blendend damit unterhalten, das Buch in einem Abend zu verschlingen. Eigentlich aber haben die schönen Miniaturgedichte es verdient, dass man noch häufiger zu ihnen greift und sich geduldiger auf sie einlässt, denn interessant genug für ein zweites, drittes oder viertes Lesen (und Durchdenken) sind sie allemal.

Heike Baller: Stadt – Natur. Norderstedt, Books on Demand, 2022, 76 Seiten.
ISBN: 978-3-7557-7824-0

Wer gern mehr über die Hintergründe von Heike Ballers Haiku erfahren möchte, findet hier ein Interview, das ich vor einiger Zeit mit ihr geführt habe.

 

 

 


Genre: Anthologie

Mein Jahr in Haiku

5 – 7 – 5: Das ist das Silbenschema im Haiku, einer kurzen Gedichtform japanischen Ursprungs, die sich aber inzwischen auch im Westen wachsender Beliebtheit erfreut. Thematisch befassen sich Haiku oft mit Naturbeobachtungen in Form von Momentaufnahmen, die eine bestimmte Jahreszeit andeuten.

Diesen formalen und inhaltlichen Kriterien bleibt auch Heike Baller in ihrem frisch erschienenen Gedichtband Mein Jahr in Haiku treu. Vom Vorfrühling über Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter bis zur Rückkehr der ersten Schneeglöckchen führen ihre Haiku durch ein ganzes Jahr, und vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, das Büchlein auch tatsächlich Stück für Stück im Jahreslauf zu lesen und sich alle paar Tage mit einem der Dreizeiler einen Moment des Innehaltens zu gönnen.

Dass jeweils nur ein einziges Gedicht auf den quadratischen Seiten steht, unterstreicht, dass jedes Haiku ungeteilte Aufmerksamkeit verdient hat und zum flüchtigen „Weglesen“ viel zu schade ist. Einzelne Seiten sind aber auch durch zu den Gedichten passende Fotos illustriert, die zeigen, was zu dem jeweiligen Haiku inspiriert haben könnte.

Aufgeschlagenes Buch "Mein Jahr in Haiku"

Ein Blick ins aufgeschlagene Buch (Heike Baller: Mein Jahr in Haiku, S. 26 / 27)

Was so schlicht, fast minimalistisch gestaltet ist, hat es aber in sich, denn die Betrachtung von Flora und Fauna ist bei Heike Baller selten bloße Kontemplation, sondern meist entweder mit augenzwinkerndem Humor gewürzt oder mit nie auf-, aber immer eindringlicher Kritik am rücksichtslosen Umgang des Menschen mit der Natur aufgeladen. Vor allem sind ihre Haiku also eines: sprachlich elegant formulierte Denkanstöße.

Die können poetisch sein, wenn von „grünsamtenen Füßen“ (S. 24) die Rede ist oder „winterwindgezauste Wolkenberge“ (S. 59) sich auftürmen, aber es kann auch einmal heftiger zur Sache gehen, wenn „Päoniensex“ (S. 25) vorbereitet wird oder unerwartet „fifty shades of grey“ (S. 42) über einen hereinbrechen. Gelegentlich wird man auch herrlich in die Falle gelockt (wie beim „Frostvollmond“ auf S. 67, mit dem es etwas ganz anderes auf sich hat, als man erwarten könnte). Auch literarische Anspielungen, etwa auf Ringelnatz, finden sich, was bei einer Buchbloggerin und Lyrikexpertin als Dichterin nicht überrascht, aber viel Freude macht.

Ein kleines Nachwort, das nicht nur die Besonderheiten des Haiku erläutert, sondern auch den ebenso scharfen wie liebevollen Blick der Autorin auf Kleinigkeiten am Wegesrand näher erklärt, rundet das Buch ab. Sich von Heike Baller auf ihren literarischen Spaziergang durch alle Jahreszeiten mitnehmen zu lassen, kann also nur empfohlen werden.

Heike Baller: Mein Jahr in Haiku. Norderstedt, BoD (Books on Demand), 2021, 72 Seiten.
ISBN: 978-3754327364


Genre: Anthologie