Stadt – Natur

Drei kurze Verse, wie spontan hingeworfen, aber immer durchdacht und voller Esprit – das sind Heike Ballers Haiku, kleine Gedichte nach japanischem Vorbild. Nachdem im letzten Sommer mit Mein Jahr in Haiku die erste Sammlung dieser zarten Poesie mit Tiefgang erschienen ist, folgt nun mit Stadt – Natur der zweite Band.

Der Titel (der den Gegensatz zwischen Stadt und Natur ebenso evoziert wie den Begriff der Stadtnatur) verrät es schon: Heike Baller ist eine begnadete Wortspielerin mit viel Gefühl für sprachliche Zwischentöne. Mehrdeutigkeiten und Assoziationen weiß sie gekonnt einzusetzen, wie etwa dieser Blick ins Buch zeigt:

Blick in das Buch "Stadt - Natur" von Heike Baller (S. 18-19)

Blick ins Buch: Heike Baller: „Stadt – Natur“, S. 18 – 19

Bei der so herrlich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten vermengenden „heruntergekommenen Wolke“ (S. 19) allein bleibt es nicht. Zweimal hinlesen muss man auch bei den oft in unerwartetem Kontext pointiert benannten Kontrasten zwischen Tod und Leben, Stehenbleiben und Vorbeilaufen, aber vor allem eben immer wieder auch Stadt (bzw. Zivilisation allgemein) und Natur.

Dieses Neben-, Mit- und manchmal auch Gegeneinander, das ihre auf täglichen Spaziergängen am Stadtrand gemachten Beobachtungen prägt, in ihren Haiku einzufangen, ist laut Vorwort auch Heike Ballers erklärtes Ziel, und es gelingt ihr gut. Gerade ihr Talent, Naturphänomene in sehr menschliche Begriffe zu fassen und umgekehrt Menschengemachtes auf eine Art zu bechreiben, die einen erst einmal an Natürliches denken lässt, lässt einen oft aufmerken und den gewohnten Blick auf die Dinge hinterfragen.

Daneben gibt es aber auch rein poetische Momente zum Schwelgen, oft eingefangen in liebevollen Wortschöpfungen: „Lichttupfenbestreut“ (S. 37) zeigen sich Wolken, während ein Baum „moosummantelt“ (S. 21) ist, und dem, der hinzusehen weiß, bietet sich eine „Fernblicksillusion“ (S. 24), wenn nicht gerade „das Nebel-Nichts“ (S. 45) alles verhüllt. Besonders sind es immer wieder die differenziert in all ihren Schattierungen geschilderten Farben, die auch dann Bilder heraufbeschwören, wenn das jeweilige Gedicht gerade nicht durch eines der schönen Fotos illustriert wird, die auf manchen Seiten die Haiku begleiten und ergänzen. Das „Kopfkino“ (S. 23) läuft auf alle Fälle nicht nur bei der Dichterin, sondern auch bei denen, die ihre Texte auf sich wirken lassen.

Einlullen lassen sollte man sich davon aber nicht, denn die Erwartung, ein stimmungsvolles Naturbild unverfälscht genießen zu können, wird oft genug enttäuscht (clever gemacht etwa in der „Farbharmonie mit Herbstlaub“, S. 12, deren Quell alles andere als romantisch ist). So bietet der Streifzug in 60 Haiku quer durch die Jahreszeiten immer wieder Überraschungen, und man kann sich blendend damit unterhalten, das Buch in einem Abend zu verschlingen. Eigentlich aber haben die schönen Miniaturgedichte es verdient, dass man noch häufiger zu ihnen greift und sich geduldiger auf sie einlässt, denn interessant genug für ein zweites, drittes oder viertes Lesen (und Durchdenken) sind sie allemal.

Heike Baller: Stadt – Natur. Norderstedt, Books on Demand, 2022, 76 Seiten.
ISBN: 978-3-7557-7824-0

Wer gern mehr über die Hintergründe von Heike Ballers Haiku erfahren möchte, findet hier ein Interview, das ich vor einiger Zeit mit ihr geführt habe.

 

 

 


Genre: Anthologie