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The Changeling Sea

Die Fischerstochter Peri hat aus gutem Grund ein gespaltenes Verhältnis zum Meer: Zwar ist es Existenzgrundlage ihres ärmlichen Heimatdorfs, dessen grauen Alltagstrott nur die alljährliche Anreise des Königshofs zum nahen Sommersitz des Herrschers ein wenig auflockert. Zugleich hat es jedoch ihren Vater das Leben gekostet und ihr mit der seither in tiefer Trauer erstarrten Mutter auch die zweite wichtige Bezugsperson genommen. Doch als sie in ihrer Hilflosigkeit zu abergläubischen Zauberpraktiken greift, um das Meer zu verhexen und ihm ihren Willen aufzuzwingen, setzt sie unwissentlich Ereignisse in Gang, die nicht nur ein Seeungeheuer auf den Plan rufen, sondern mit dem leicht unheimlichen Königssohn Kir und dem schelmischen Magier Lyo auch zwei Männer in Peris Leben treten lassen, die ihr bald unerwartet viel bedeuten.
So weit, so unspektakulär, möchte man meinen, und oberflächlich betrachtet liegt damit in der Tat nur ein unterhaltsames, märchenhaftes Jugendbuch vor, dessen Handlung für McKillip’sche Verhältnisse recht geradlinig verläuft und das alte Motiv des Wechselbalgs aufgreift, wenn auch mit einer interessanten Wendung, was die Identität der vertauschten Kinder betrifft.
Aus genrehistorischer Perspektive ist jedoch das Spannende an dem Roman, dass McKillip hier eine Formel vorwegnimmt, die sich in der Jugendfantasy spätestens seit Twilight größter Beliebtheit erfreut: Eine scheinbar nicht weiter ungewöhnliche junge Frau steht zwischen mehreren Männern, von denen mindestens einer sich durch übernatürliche Fähigkeiten oder andersweltliche Abstammung auszeichnet.
Während jedoch viele aktuelle Spielarten dieses populären Handlungsmusters zu Recht dafür kritisiert werden, dass eine blasse Protagonistin Angebeteten verfällt, die ihr in jeder Hinsicht haushoch überlegen sind, und im Rahmen dieser asymmetrischen Beziehungen Entscheidungen trifft, die im wahren Leben nicht unbedingt zur Nachahmung empfohlen sind, ist McKillips Umgang mit dem Thema differenzierter.
Peri ist durchaus klug genug, zu erkennen, dass gerade die feenhafte Wesensart, die einem ihrer Verehrer seinen Charme verleiht, einem sinnvollen Verhältnis auf die Dauer im Wege steht. Dass ihr diesbezüglicher Stroßseufzer, sie wünsche, er könne „menschlicher“ sein, ungeahnte magische Auswirkungen hat, ist eine amüsante Wendung. Aber eine Dreiecksliebe entspinnt sich nicht nur um die entschlossene Heldin, sondern bildet auch die Vorgeschichte des Romans, die erst nach und nach aufgedeckt wird und einen tragischen Zusammenhang zwischen der Königsfamilie, dem Seeungeheuer und der sagenumwobenen Welt unter dem Meer herstellt. Trotz des bitteren Unrechts, das einigen Figuren geschieht, kommt der Roman ohne eigentlichen Schurken aus und ist in manchen Szenen fast eine philosophische Betrachtung über aus enttäuschten Gefühlen erwachsene Fehlreaktionen, die nicht nur Unschuldige leiden lassen, sondern auch die Verantwortlichen selbst treffen.
Doch wie immer bei McKillip macht die Handlung nicht den hauptsächlichen Reiz des Buchs aus. Neben der poetischen Sprache ist es vor allem die grandios ambivalente Schilderung des Meeres, das in seiner lebensspendenden Funktion ebenso thematisiert wird wie als bedrohliches und sogar todbringendes Element, das neben unermesslichen Schätzen auch düstere Geheimnisse birgt und zu allerlei Legendenbildung anregt. Kontrast zu dieser weiten und bezaubernden Kulisse und doch zutiefst von ihr geprägt ist Peris Heimatort mit seiner (auch geistigen) Enge und Beschränktheit, der die Heldin letzten Endes entflieht – allerdings nicht wie in so manchem vergleichbaren Roman ausschließlich in die Arme des Mannes, mit dem sie zusammenfindet, sondern vor allem in eine neue Aufgabe, die sich fast zwingend aus ihren Erlebnissen ergibt.
So ist The Changeling Sea vieles, klassischer Entwicklungsroman ebenso wie stilles Loblied auf die Faszination von Küstenlandschaften und nicht zuletzt auch sensibles Abstecken des Spannungsfelds zwischen den Zwängen einer Herkunft, die sich nicht verleugnen lässt, und individueller Entfaltung. Fantasyleser und Märchenfreunde werden hier Altbekanntes wiederentdecken, aber in so origineller und oft eleganter Interpretation, dass das Buch sich auch über ein Vierteljahrhundert nach seinem ersten Erscheinen noch frisch und unverstaubt liest.

Patricia A. McKillip: The Changeling Sea. New York u.a., Firebird (Penguin), 2003 (Originalausgabe: 1988), 137 Seiten.
ISBN: 978-0141312620


Genre: Roman

The Bards of Bone Plain

Patricia A. McKillip ist seit Jahrzehnten für ihre poetische Fantasy bekannt, die sehr ruhig, aber mit Tiefgang von verzauberten Welten erzählt. In The Bards of Bone Plain widmet sie sich dem Motiv der Verknüpfung von Musik, Magie und Orten, das auch in ihrem vielleicht bekanntesten Werk, der Riddle-Master-Trilogie (dt. als Erdzauber erschienen), schon mit anklingt.
Der junge Phelan besucht seit Jahren die traditionsreiche Bardenschule, vor allem auf Wunsch seines Vaters Jonah, der dort einst scheiterte und sich mittlerweile nur noch für den Alkohol und die Archäologie zu interessieren scheint – ein Zustand, über den Phelan allenfalls die Beteiligung der ihm nicht unsympathischen Prinzessin Beatrice an den Grabungen hinwegtrösten kann. Um das ungeliebte Studium endlich hinter sich zu haben, fehlt ihm nur noch seine Abschlussarbeit, die er, um sich nicht zu sehr abzurackern, über ein sattsam abgehandeltes Thema zu schreiben gedenkt: Die titelgebende mystische Ebene, auf der Barden sich einst magischen Prüfungen stellten, während sie Phelans Zeitgenossen nur noch als spirituell aufgeladene Phantasievorstellung gilt. Doch je länger Phelan sich mit den historischen Hintergründen und vor allem mit der Gestalt des Barden Nairn befasst, der nach seinem Versagen angeblich zur Unsterblichkeit verflucht wurde, desto deutlicher wird ihm, dass manch alte Sage doch kein bloßes Hirngespinst ist – und dass die Verbindung zwischen den Mythen und seiner eigenen Familie enger ist, als er je geahnt hätte.
Diese Ausgangssituation nutzt McKillip für eine reizvoll gestaltete dreisträngige Erzählung: Neben den Erlebnissen Phelans und seines Umfelds in der Jetztzeit des Romans stehen Passagen aus seiner fiktiven wissenschaftlichen Arbeit, an die jeweils unmittelbar die Schilderung der wahren historischen Vorgänge um den Barden Nairn anschließt, der in einer ans Mittelalter angelehnten Epoche ein wildbewegtes Leben führt. Phelans Gegenwart dagegen zeichnet sich durch ein leicht edwardianisches Flair und Steampunk-Elemente (wie z.B. dampfbetriebene Autos) aus.
Zentraler als dieser äußerliche Fortschritt ist jedoch der Wandel der Mentalität hin zu einem wissenschaftlichen Weltbild, in dem Magie und Mystik nur noch als fiktive Würze alter Geschichten ihren Platz haben. Dass die Bardentradition zwar noch akademisch hochgehalten, aber gar nicht mehr in vollem Umfang verstanden wird, macht recht eindrucksvoll den Unterschied zwischen dem historisch-antiquarischen Interesse an einer Praktik und ihrer gelebten Realität deutlich, der auch viele Geisteswissenschaftler in unserer Welt umtreiben dürfte. Ohnehin ist das akademische Umfeld kenntnisreich und mit viel Humor skizziert. Wer selbst einmal studiert hat, wird in der Mischung aus Lernstress, abendlichen Feiern, desillusionierten Examenskandidaten und idealistischen jüngeren Semestern schmunzelnd so einiges wiedererkennen, was sich auch an einer Universität im echten Leben abspielen könnte.
Nairns Zeit dagegen wirkt im wahrsten Sinne des Wortes „sagenhaft“ und weist einen stark keltischen Einschlag auf, der sich nicht nur auf die besonders geachtete Stellung der Barden beschränkt; von Ogham-ähnlichen Runen über Rätselgedichte bis hin zur Rolle der Anderswelt gibt es hier vieles, das aus Geschichte, Literatur und Mythologie vertraut ist. Obwohl hier, anders als bei den vordergründig friedlichen Ereignissen um Phelan, unter anderem ein Eroberungskrieg geschildert wird, bleibt die Erzählweise zurückhaltend und verzichtet auf auf grelle Effekte, um stattdessen über weite Strecken in einer fast lyrischen Sprache zu schwelgen.
Davon sollte man sich jedoch über eines nicht hinwegtäuschen lassen: Unter der bunten und häufig amüsanten Oberfläche mit ihren pointierten Dialogen und charmanten Details geht es um Leben und Tod, nicht unbedingt (nur) im Sinne des Bestehens von Gefahren, sondern weit eher in Form einer Auseinandersetzung mit den Grundbedingungen menschlichen Daseins und der Rolle, die Kunst und Kultur bei seiner Bewältigung spielen können. So erhält man unterschwellig viele Denkanstöße, während die Handlung sich in beiden Zeitebenen des Romans auf einen Sängerwettstreit zur Ermittlung des neuen königlichen Barden zubewegt, allerdings mit sehr unterschiedlichem Ausgang, der auch einen nicht unwesentlichen Einfluss auf Phelans Abschlussarbeit hat.
Obwohl dieses Ende durchaus befriedigend und in mancherlei Hinsicht versöhnlich ist, bleibt man danach mit dem Eindruck zurück, hier eigentlich nicht primär einen Roman gelesen zu haben, der über seinen Plot wirkt, sondern vor allem ein sprachliches Kunstwerk, das es durchaus verdient hat, ins Lieblingsbuchregal zu wandern und künftig noch oft zur Hand genommen zu werden, damit man die ein oder andere Stelle noch einmal genießen kann. Denn vergessen wird man die Bards of Bone Plain und ihre musikalischen Abenteuer so schnell nicht.

Patricia A. McKillip: The Bards of Bone Plain. New York, Ace (Penguin), 2011 (besprochene Ausgabe; Original 2010), 329 Seiten.
ISBN: 978-1937007232


Genre: Roman