Balmsund: Fegefeuer

Ein harter Winter hat den abgelegenen Fischerort Balmsund fest im Griff, als in einem Kanalschacht die Leiche eines außerordentlich gut gekleideten jungen Mädchens gefunden wird. Die Polizistin Lisbeth Wolf trägt zunächst allein die Verantwortung für die Ermittlungen, weil ihr Vorgesetzter Adam Canetti wegen eines anderen Falls abwesend ist, und hat damit zu kämpfen, dass es keine heiße Spur gibt: Niemand scheint die Tote zu kennen. Nach Adams Rückkehr finden sich bei der Inaugenscheinnahme der nahen verlassenen Kirche zwar erste Anhaltspunkte, aber so manches bleibt dennoch rätselhaft: Warum verhält sich der junge Pflegesohn des Bestatters sonderbar? Was hat es mit dem geplanten Bauprojekt auf dem Kirchengelände auf sich, und welche Rolle spielt der Campingplatz, auf dem selbst bei Eis und Schnee noch exzentrische Dauerbewohner ausharren? Dass Lisbeth gleichzeitig mit unterschwelligen Eheproblemen konfrontiert ist und Adam vergeblich darum ringt, mit einer belastenden Vergangenheit abzuschließen, macht die Sache natürlich nicht unbedingt einfacher. Nach einiger Zeit scheint es dennoch genug Indizien zu geben, die darauf hindeuten, wer hinter dem Mord stecken könnte – doch dann wird eine zweite Leiche gefunden …

Christian Wagnon legt mit Balmsund: Fegefeuer einen spannenden Krimi vor, der geschickt die klaustrophobische Atmosphäre nutzt, die sich aus der Ansiedlung der Handlung in einer zwar nicht komplett von der Außenwelt abgeschnittenen, aber doch kleinen und durch enge persönliche Verflechtungen gekennzeichneten Gemeinde ergibt. Hier kennt jeder jeden, und der Kreis der eigenen engsten Bezugspersonen und die Liste der Verdächtigen können sich schnell überschneiden, zumal viele Ortsansässige etwas zu verbergen haben. So sind Polizeiarbeit und Privates schwieriger zu trennen als in der Anonymität einer Großstadt. Auch dorthin gibt es allerdings so manche Verbindung, nicht nur im eigentlichen Mordfall, sondern auch dadurch, dass Adam aus der Hauptstadt in die Provinz versetzt worden ist und unter seinen alten Kollegen eine nicht unbedingt ausschließlich wohlgesonnene Bekannte hat, deren ambivalente Präsenz im Hintergrund die Lage noch ein wenig ungemütlicher macht.

Darüber hinaus neigen einige der Romanfiguren, die alle ihr Päckchen zu tragen haben, zu Albträumen oder schaurigen Gedanken über Zombies und weitere Schrecken, ganz zu schweigen davon, dass es in der Gegend auch verstörende Geschichten über untergegangene Fischkutter und männermordende Meerjungfrauen gibt. So schwingt ein ständiger Grundton von Grusel und Bedrohung mit. Auch die immer wieder eingeflochtenen Naturbeobachtungen haben oft etwas Unheimliches. Die Düsternis wird aber durch kleine Freuden wie Kuchen oder Grog aufgelockert, gelegentlich sogar durch einen Schuss Humor: Adam sieht etwa nach eigener Einschätzung mit Bart aus „wie ein völlig zugewachsener bissiger Troll“(S. 56).

Ungewohnt für einen in der Gegenwart spielenden Krimi ist, dass Balmsund sich einer konkreten geographischen Verortung entzieht. Die Anmutung ist im weitesten Sinne nordeuropäisch, und das Orts- und Personennamenmaterial orientiert sich überwiegend an skandinavischen, baltischen, niederländischen, englischen und deutschen Vorbildern, aber in welchem Land genau Balmsund nun weit abseits der nicht namentlich genannten Hauptstadt liegt, wird nie explizit gemacht. Das ist angesichts der Fülle von Romanen, die als Kulisse von Mordermittlungen reale Regionen in In- und Ausland nutzen, durchaus auffällig, funktioniert aber mit seiner Mischung aus Küstenflair und Winterstimmung gut.

Was sich an der rauen Küste abspielt, steigert sich Stück für Stück zu einem dramatischen Showdown, in dem Lisbeth mit alten Ängsten konfrontiert wird und sich einigen Wahrheiten stellen muss. Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende, und das nicht nur, weil die Hintergründe des Geschehens sich als ziemlich kompliziert erweisen und noch mehr als eine unerwartete Wendung auf das Polizeiteam wartet. Christian Wagnon gönnt seinem Roman einen allmählichen Ausklang, in dem noch einiges abseits vom hauptsächlichen Fall geklärt wird, aber genügend Anknüpfungspunkte für eine Fortsetzung erhalten bleiben, die nach den Angaben im Buch auch tatsächlich für 2022 geplant ist. Da Lisbeth Wolf und Adam Canetti ansprechende und differenziert gezeichnete Charaktere sind, kann man sich auf ihre nächsten Ermittlungen freuen.

Christian Wagnon: Balmsund: Fegefeuer, Dresden 2021. E-Book (über Amazon zu beziehen).
ASIN: B09HHPLJKB


Genre: Roman