Das Erbe der Elfenmagierin

Auf dem Elfen Ardoas ruhen große Erwartungen: Als jüngste Inkarnation der Elfenmagierin Naromee, die schon vielfach wiedergeboren worden ist, kann nur er den Schlüssel zu ihren Erinnerungen finden, die seine Gemeinschaft für entscheidend für ihr weiteres Gedeihen hält. Es gibt nur eine Schwierigkeit: All seine Seelengeschwister (wie er die vorhergehenden Inkarnationen nennt) haben bei dem Versuch, in der Fremde Naromees Erinnerungen auf die Spur zu kommen, den Tod gefunden. So soll Ardoas auf Wunsch seiner Eltern lieber friedlich seine Studien treiben, als sich in die Ferne zu wagen. Natürlich verschlägt es ihn auf Umwegen doch noch dorthin, denn ihm wird schnell klar, dass vermutlich nur das Orakel Niadaris ihm weiterhelfen kann, eine hellseherisch begabte Person, die angeblich in einem entlegenen Felsentempel lebt. Auch der junge Adlige Daludred, der ähnlich wie Ardoas gegen den Willen seiner Eltern in die Welt gezogen ist, möchte Niadaris finden, um seine eigene Sehergabe schulen zu können. Die beiden hoffen, gemeinsam ans Ziel zu kommen. Doch leider geht auch das Gerücht, dass der Tempel Schätze birgt. Das weckt natürlich Begehrlichkeiten, und so sind den jungen Männern bald ein zwielichtiger Händler, verschiedene Söldnerhaufen und ein undurchsichtiger Magierbund auf den Fersen. Die Söldnerin Jerudana scheint die besten Aussichten zu haben, die Gesuchten als Erste aufzuspüren – doch als sie erkennt, dass in den eigenen Reihen Verrat lauert, muss sie noch einmal überdenken, was sie mit Ardoas und Daludred nun eigentlich anfangen will …

Nach mehreren Science-Fiction-Romanen kehrt James A. Sullivan mit seinem neuen Buch Das Erbe der Elfenmagierin in die Fantasy zurück, die sich bei ihm – wie schon aus Nuramon gewohnt – fast wie die moderne Entsprechung eines mittelalterlichen Artusromans liest: eine Geschichte voller Abenteuer, Kämpfe und Liebe, aber auch mit dem ein oder anderen philosophischen Moment, die mit einer magiedurchtränkten Welt und einer bunten Figurenfülle aufwartet. Diesmal hat vor allem der Parzival Wolframs von Eschenbach als Inspirationsquelle gedient, und das nicht nur, weil die Ausgangssituation des Helden, der aus elterlicher Liebe von der Welt ferngehalten wird, um nicht die tödlichen Fehler vorhergehender Generationen (bzw. hier: Inkarnationen) zu wiederholen, sich gleicht (wobei im Einstieg mit einer bedeutungsvollen Geburtstagsfeier natürlich zugleich ein Augenzwinkern in Richtung Tolkien mitschwingt). Vielmehr kehrt fast leitmotivisch der Begriff des Zweifels wieder, der den vieldiskutierten zwîvel der Eingangsverse des Parzival evoziert, und auch die Art, wie Jagd und Gewaltausübung als oft unumgängliche, aber für den Helden emotional doch zweischneidige Tätigkeiten gezeichnet werden, hat bei Wolfram Vorbilder. Dass diese und manch andere Parallelen nicht etwa unbewusst eingeflossen sind, sondern Methode haben, zeigt sich an deutlicheren Anspielungen, die das Mediävistenherz erfreuen: So diskutieren z. B. zwei Romanfiguren ganz offen über die anscheinend auch in ihrer Welt für epische Dichtung typischen Doppelwege, zu denen es vorzüglich passt, dass der Roman der Einstiegsband eines Zweiteilers ist.

Doch Das Erbe der Elfenmagierin ist eben zugleich auch ein modernes Buch, das sich keinem mittelalterlichen Ethos, sondern progressiven Idealen verschrieben hat. James A. Sullivan wählt dabei den Weg, Probleme unserer Welt nicht einfach durch eine phantastische Entsprechung darzustellen, sondern hält der heutigen Gesellschaft einen Spiegel vor, indem er für Ardoas und seine Umgebung vieles, was in der Realität bestenfalls geduldet, aber doch nicht voll und ganz akzeptiert ist, schiere Normalität sein lässt. Diversität (ob nun an Hautfarben, Geschlechtsidentitäten oder sexuellen Orientierungen), Gleichberechtigung und Liebesbeziehungen, die sich nicht nur auf zwei Personen beschränken, sind hier selbstverständlich und stellen einen vor die Frage, ob das Gewohnte und Gewöhnliche tatsächlich immer naturgegeben ist oder ob Traditionen nicht auch willkürliche Elemente enthalten mögen.

Mit dem Stichwort Traditionen – die einerseits zwar als Kitt geschildert werden, der insbesondere verfolgte Gruppen zusammenhält, andererseits aber auch in ihrer Hinterfragbarkeit beleuchtet werden – ist auch schon eines der Themen benannt, die James A. Sullivan schon in seinen älteren Werken beschäftigen, hier aber noch klarer und prononcierter ausgearbeitet werden als etwa in Nuramon. In diesen Kreis gehören auch das Motiv der Fremdheitserfahrung, das der Weltenreisenden, die sich – ihrem eigenen Ursprungskontext entrissen und nach langer Zeit in der Sklaverei – selbst eine Zuflucht schaffen müssen, das des nach menschlichen Maßstäben außergewöhnlich langen (ggf. magisch verlängerten) Lebens und das der Reinkarnation. Die Kombination der beiden letztgenannten Phänomene bringt Ardoas in einige interessante Situationen, denn wie geht man etwa damit um, wenn man wiedergeboren der noch lebenden Geliebten seiner letzten Inkarnation gegenübersteht? Auch die Freude des Autors an Sprache ist dem Roman anzumerken, und so kann es auch schon einmal passieren, dass ein romantisches Nachtgespräch nahtlos in eine linguistische Erörterung derbster Flüche übergeht, um dann doch noch ebenso deftig wie elegant den Bogen zurück zum Ausgangsthema zu schlagen.

Falls das aber nun alles nach gedankenschwerer Lektüre klingt, keine Sorge: Das Erbe der Elfenmagierin verpackt all diese Überlegungen mit leichter Hand in eine spannende Handlung, die zwar noch recht beschaulich mit Bibliotheksrecherchen beginnen mag, aber im Laufe der Zeit immer mehr Fahrt aufnimmt und gegen Ende äußerst actionreich auf eine tragische Wendung hinführt, mit der man im ersten Band einer Reihe so nicht rechnet. Gut also, dass Band 2, Das Orakel in der Fremde, schon im nächsten Jahr erscheint, denn wie es weitergeht, möchte man nach der Lektüre des Erbes der Elfenmagierin (das übrigens mit einer Karte zum Ausklappen und geprägtem Cover auch äußerlich schön gestaltet ist) unbedingt wissen.

James A. Sullivan: Das Erbe der Elfenmagierin. Die Chroniken von Beskadur 1. München, Piper, 2021, 448 Seiten.
ISBN: 978-3-492-70671-1


Genre: Roman