Das minoische Kreta

Stiersprung und Paläste, Labyrinth und Doppelaxt, potenzielles Matriarchat oder gar Atlantis-Vorbild – die Assoziationen, die die Kultur weckt, die nach dem kretischen König Minos aus der griechischen Mythologie als die minoische bezeichnet wird, ohne dass bekannt wäre, wie sie sich selbst nannte, sind vielfältig. Was aber wissen wir eigentlich wirklich über das bronzezeitliche Kreta? Viel und wenig zugleich, wie Diamantis Panagiotopoulos in seinem Buch Das minoische Kreta überzeugend darlegt. Gut lesbar und mit vielen Fotos und Grafiken illustriert schildert er, was sich über die Situation auf Kreta zwischen 3100 v. Chr. und 1200 v. Chr. sagen lässt, als sich nach und nach zuerst eine eher agrarisch denn maritim geprägte Lebensweise entwickelte, in der sich über Jahrhunderte mehrere vielleicht miteinander konkurrierende, aber wohl auf alle Fälle voneinander unabhängige Palastzentren herausbildeten, unter denen schließlich der Palast von Knossos die Dominanz und vermutlich eine Art Oberherrschaft erlangte, bis es dann unter ungeklärten Umständen zu einer Übernahme der festländischen mykenischen Kultur kam und der kretische Sonderweg in der griechischen Welt aufging.

Ziel und Anspruch des Autors ist es dabei, sowohl ein Fachpublikum als auch Interessierte abseits des akademischen Kontexts anzusprechen – ein Vorhaben, das nicht zuletzt aufgrund seiner tiefen Liebe zum damaligen wie zum heutigen Kreta gelingt, die in seinen Schilderungen immer wieder spürbar wird. Sein Bemühen, die Minoer zu verstehen, geht deshalb nicht nur von den gleichwohl gut beschriebenen und differenziert interpretierten archäologischen Funden allein aus, sondern von den epochenübergreifenden naturräumlichen Besonderheiten Kretas. Daneben legt Panagiotopoulos großen Wert darauf, nicht nur eine abstrakte „Kultur“ zu schildern, sondern das Individuum in seiner Interaktion mit der Welt sichtbar zu machen.

Das allerdings ist für das minoische Kreta nicht ganz einfach: Die Schriftquellen (in kretischen Hieroglyphen und Linear A) sind immer noch nicht entschlüsselt, und so lebendig die erhaltenen Bilder auch wirken mögen, weisen sie doch Besonderheiten auf, die sie nicht als unverfälschte Wiedergabe der minoischen Realität erscheinen lassen. Beispielsweise gibt es, anders als gleichzeitig in Ägypten oder im Alten Orient, unter den zahlreichen Gemälden und Statuen keine, die sich eindeutig als Darstellungen konkreter Einzelpersonen, also quasi als Portraits, identifizieren lassen. In den häufigen Fest- und Alltagsszenen, die es stattdessen gibt, agieren meist nur junge Erwachsene – Kinder sind selten, ältere Menschen gar nicht abgebildet. Die Gründe dafür sind unklar.

Nicht nur deshalb ist die moderne Rezeption der minoischen Kunst und auch anderer Funde oft stark von Spekulationen geprägt. Seinen Teil dazu beigetragen hat Arthur Evans, der Ausgräber von Knossos, dessen Rekonstruktionen eher phantasievoll waren. Panagiotopoulos verteufelt ihn dennoch nicht, sondern zeigt bei aller Kritik auf, dass Evans durchaus viel leistete und nicht unbedingt wild fabulierte, sondern von seiner Zeit und seinem Bildungshintergrund geprägte Schlüsse zog.

Wie leicht das auch mit dem heutigen erweiterten Kenntnisstand geschehen kann, demonstriert der Autor anhand eines Wandgemäldes, das prominent Frauen in Szene setzt: Je nachdem, wie man sie sehen möchte, könnten sie von Würdenträgerinnen und Priesterinnen einer eher matriarchal geprägten Gesellschaft bis hin zu Haremsdamen in einem extremen Patriarchat so gut wie alles sein. Was man selbst an die bronzezeitlichen Zeugnisse heranträgt, prägt deren (vermeintliche) Aussage, dafür hat Panagiotopoulos einen wachen Blick. Entsprechend vorsichtig fallen auch seine eigenen Überlegungen aus, die oft eher Möglichkeiten aufzeigen, als in Stein gemeißelt zu erscheinen. Nur an wenigen Stellen wagt er unbelegbare Vermutungen, so etwa in der Deutung des in der minoischen Kunst oft wiedergegebenen Stiersprungs, der für ihn weder Initiationsritual noch Mythos, sondern ein wiederholter Akt der Selbstdarstellung der jungen, männlichen Angehörigen der kretischen Elite ist.

Abgesehen von hochinteressanten Informationen über Archäologie und Forschungsgeschichte des minoischen Kreta bietet das Buch daher auch ein überzeugendes Plädoyer dafür, sich im Umgang mit der Vergangenheit der Subjektivität von Rezeption und der eigenen Rezipientenrolle stets bewusst zu bleiben. Lesenswert ist es daher nicht nur für diejenigen, die sich mit der kretischen Bronzezeit beschäftigen möchten, sondern generell für alle, denen vor- und frühgeschichtliche Kulturen am Herzen liegen.

Diamantis Panagiotopoulos: Das minoische Kreta. Abriss einer bronzezeitlichen Inselkultur. Stuttgart, W. Kohlhammer, 2021, 312 Seiten.
ISBN: 978-3-17-021269-5


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur