Das öde Land und andere Geschichten vom Ende der Welt

Apokalyptisches ist der Phantastik nicht fremd, ganz gleich, ob es nun um den allumfassenden Weltuntergang geht oder der Mikrokosmos vielleicht nur einer einzigen Person der Vernichtung anheimfällt. So sind es auch ganz verschiedene Enden, die Oliver Plaschka in seiner Kurzgeschichtensammlung Das öde Land und andere Geschichten vom Ende der Welt vereint, wobei dieses Ende in manchen Fällen auch räumlich statt zeitlich zu verstehen ist, wenn es um entlegene Gebiete oder Berührungspunkte zwischen alltäglicher Realität und Übernatürlichem geht. Melancholie und Tod sind aber auch dann nie sonderlich weit entfernt. Vom Märchen bis zur Science Fiction sind alle möglichen Genres abgedeckt, und enthalten sind sowohl Texte, die schon im Rahmen anderer Anthologien erschienen sind, als auch Erstveröffentlichungen. Teilweise knüpfen sie an frühere Werke des Autors an, aber Vorkenntnisse sind nicht notwendig, da er in einem ausführlichen Vorwort sowohl diese Querverbindungen erläutert als auch seinen literarischen Werdegang und einige der Einflüsse, die sein Schaffen prägen, skizziert.

Den Einstieg bildet mit Der Heimkehrer eine Geschichte, die vordergründig nur von der Anreise eines etwas eigenen älteren Mannes mit Tochter und Schwiegersohn zu einer Hochzeit handelt, diese Ausgangssituation aber nutzt, um schrittweise auf eine traumatisierende Vergangenheit und ihre bis in die erzählte Gegenwart reichenden Folgen hinzuführen, gleichwohl mit für die Maßstäbe dieser Sammlung relativ tröstlichem Ausgang.

Drachenschwingen hat ein besonderer Wasserspeier, ohne sie allerdings, auf seiner Kirche fest verankert, nutzen zu können, so dass er die Welt nur in Gesprächen mit allerlei Besuchern an seinem luftigen Aufstellungsort entdecken und dabei zu mancherlei erstaunlichen Erkenntnissen gelangen kann, während er selbst zunächst eine Konstante in sich wandelnden Zeiten bleibt.

Der Fall des verwunschenen Schädels sollte eigentlich von dem berühmten Detektiv Sherlock Holmes gelöst werden, der inkognito auf Haiti auf der Suche nach dem titelgebenden gestohlenen Museumsstück ist, doch als nur noch Voodoo weiterhelfen kann, haben weder er noch sein alter Freund Dr. Watson mehr die Zügel in der Hand – was also hat eine ungewöhnliche Frau, die der Ermittler um Unterstützung bittet, über die Ereignisse zu erzählen?

Deprimierender kommt Ruthie daher, kreuzen sich hier doch die Wege zweier auf jeweils ganz eigene Art dem Untergang geweihten Personen, eines herumirrenden Kranken und eines Obdachlosen, der vielleicht nicht ganz so abgeklärt ist, wie er sich gibt.

Die Insel erzählt – ohne übernatürlichen Einschlag, aber sehr differenziert und menschlich – von einer ersten Liebe, einem klassischen Aufbruch ins Abenteuer und einer Rückkehr, allerdings, und das macht den Reiz aus, nicht wie üblich aus der Perspektive der in die Ferne ziehenden Gestalt sondern aus dem Blickwinkel einer mehr oder minder am Ende der Welt zurückbleibenden. Schön ist hier, dass die Erzählsituation, in der die Ich-Erzählerin berichtet, greifbar wird, etwas, das bei Geschichten in der Ich-Perspektive beileibe keine Selbstverständlichkeit ist.

Verstörender wird es in Solis’ Stimme, denn hier mischt sich ein guter Schuss Horror in das Science-Fiction-Setting, wenn die Titelgestalt auf einmal eine sonderbare Stimme hört, die vielleicht nicht gar so sehr Einbildung ist, wie es Außenstehenden erscheinen könnte, und das ungeahnte Folgen hat.

Die Frau, der Magier, seine Katze und ihr Geheimnis entführen nach Paris zur Zeit der Weltausstellung, und man erfährt nicht nur, dass es mit dem Eiffelturm mehr auf sich hat, als man ihm zutrauen würde, sondern bekommt auch ein tiefgründiges Ausloten von Fragen der Identität in verschiedenen Lebensphasen und -situationen geboten.

Hat das noch seine tröstlichen Elemente, ist Die kreisende Schwärze, die als Einsatzbericht einer Raumschiffbesatzung abgefasst ist, ungefähr so schaurig, wie der Titel suggeriert, denn wenn ein seelenverschlingendes Schwarzes Loch mit im Spiel ist, kann die Sache ja nicht gut ausgehen.

Solomons Märchen bietet dagegen trotz aller ernsten Themen, die darin mit anklingen, einen hochwillkommenen Schuss Humor, wenn zwei recht unterschiedliche Charaktere sich zusammentun, um den letzten Wunsch eines Verstorbenen zu erfüllen und einen sehr speziellen Einbruch zu begehen, um an ein anders nicht zu erhaltendes Dokument zu gelangen.

Einen krassen Gegensatz dazu bildet atmosphärisch Die Grenze, denn alle Grenzen, auf die es ankommt, hat ein geiselnehmender Guerillatrupp, der sich unter einem recht dämonisch anmutendem Anführer durch die Wildnis kämpft, wohl schon längst überschritten, so dass auch die Erzählergestalt, ein Mitglied der kleinen Schar, nicht unbedingt sympathisch daherkommt. Der Verlauf der Ereignisse ist zwar zwingend und überzeugend geschildert, aber alles andere als ersprießlich.

Jenseits der Mauer des Morgens mutet nur auf den ersten Blick harmloser an, denn die Anzeichen, dass das vermeintlich traute Beisammensein eines Paars in einem Wohnzimmer vor malerischer Bergkulisse nicht das ist, was es zu sein scheint, sind von Anfang an clever in den Text eingestreut und führen auf einen ernüchternden Schluss hin.

In Jimberlyne, Jimberlyne wird es märchenhaft, allerdings nicht auf friedlich-zauberhafte Art, sondern wieder mit deutlichen Abstechern in den Horror, wenn ein Holzfäller und seine Frau Drastisches (und drastisch Geschildertes) in einem Grauen Wald, dessen Name wohl nicht umsonst das „Grauen“ suggeriert, am Ende der Welt erleben und nicht unbedingt unbeschadet daraus hervorgehen.

Der blinde Passagier dagegen ist im Orient-Express unterwegs und greift das schon in der Sherlock-Holmes-Episode genutzte Motiv von Diebstählen einiger Objekte mit nicht ganz astreiner Provenienz aus dem British Museum wieder auf. Die Titelfigur hat angeblich eine kostbare Krone im Gepäck und einem Mitreisenden darüber eine schier unglaubliche Geschichte zu erzählen, die, kaum dass sich die Wege der beiden wieder getrennt haben, auf ein effektvoll genutztes offenes Ende zusteuert.

Von Anfang an düsterer ist die Stimmung, wenn ein Wissenschaftler sich durch Das öde Land, in diesem Fall die Antarktis, zu einer Forschungsstation nach der anderen durchkämpft und nicht nur grausige Entdeckungen macht, sondern auch mit sich selbst und dem, was er in mehr als einer Hinsicht getan hat, fertigwerden muss – ein Schlusspunkt für die Geschichtensammlung, der einem einen Schauer über den Rücken jagt.

So vielfältig und unterschiedlich die hier versammelten Texte auch sind, einige Motive kehren wieder und prägen den Grundton: das des Verlusts des Partners oder der Partnerin in einer Liebesbeziehung, die Frage nach Wandlungen des eigenen Ichs im Laufe eines Lebens (von unterschiedlichen eingenommenen Rollen über Wiedergeburtsvorstellungen bis hin zur drohenden oder tatsächlichen Fremdbestimmung durch andere Individuen oder unabwendbare Umstände wie Krankheiten) und das des Ausgeliefertseins an eine Welt, in der die eigenen Spielräume oft geringer sind, als man es sich vielleicht wünscht oder ausmalt. Trotz aller Abenteuerelemente und mancher Auflockerung ist das emotional keine ganz leichte Kost.

Ein „schönes“ Buch in dem Sinne, dass man auf ein ausgesprochen wohliges Lektüreerlebnis hoffen dürfte, ist die vorliegende Anthologie also nicht, aber doch ein sehr lesenswertes, und das aus zwei Gründen nicht nur für Fans des Düsteren und Beängstigenden. Zum einen ist man unweigerlich angetan von einer Erzählkunst, die sprachliches Geschick (etwa in Form klug genutzter Tempuswechsel) mit einem exakten Gespür für den stimmigen Aufbau einer Geschichte verbindet. Zum anderen verfügt Oliver Plaschka über die seltene Fähigkeit, auch Figuren, die sehr traurige Schicksale erleiden, einfühlsam und ohne Voyeurismus zu schildern (wie es etwa auch sein Rustichello da Pisa in Marco Polo beweist). Dadurch sind auch Grundideen zu ertragen, die in anderen Händen vielleicht schnell zu viel des Guten hätten werden können. So ist der Ausflug ans Ende der Welt (in welcher Bedeutung auch immer) auf alle Fälle zu empfehlen.

Oliver Plaschka: Das öde Land und andere Geschichten vom Ende der Welt. Meitingen/Erlingen, Verlag Torsten Low, 2016 (E-Book; auch als Taschenbuch erhältlich).
ISBN: 978-3-940036-58-2


Genre: Anthologie