Im frühen 14. Jahrhundert will der nicht gerade mit überragenden Geistesgaben ausgestattete Schustergeselle Seppe von Stuttgart aus in die Welt ziehen. Vom geheimnisvollen Hutzelmännlein erhält er vor seinem Aufbruch nicht nur den Auftrag, nach einem ganz bestimmten Bleiklötzchen zu suchen, sondern auch mehrere magische Geschenke, darunter zwei Paar Schuhe, von denen er eines tragen, das andere aber am Wegrand zurücklassen soll, um zu seinem Glück zu gelangen. Dummerweise vertauscht Seppe jedoch jeweils einen Schuh des Paars, so dass ihm und der Finderin der zurückgelassenen Schuhe, der jungen Vrone, allerlei gefährliche Missgeschicke zustoßen. Daraus ergeben sich zahlreiche Abenteuer, in denen zwei ungesühnte Gattenmorde, ein Krakenzahn und das angeblich von der Titelfigur erfundene Hutzelbrot (eine Art Früchtebrot) eine nicht unwesentliche Rolle spielen, bis am Ende die ursprünglich zusammengehörigen Schuhpaare auf ebenso unerwartete wie spektakuläre Art wieder zusammenfinden und damit auch Seppes und Vrones weiteres Leben bestimmen …
Eduard Mörikes 1853 zum ersten Mal erschienenes Stuttgarter Hutzelmännlein ist ein ebenso charmanter wie fabulierfreudiger Text, der rein formal auf halbem Weg zwischen Kunstmärchen und Novelle steht, aber trotz seiner so harmlosen Anmutung einige ziemlich subversive und ironische Elemente enthält. Der bekannteste Teil des Werks ist heute vermutlich die als eine von mehreren Binnenerzählungen eingefügte, aber auch als Vorgeschichte der Haupthandlung zentrale Historie von der schönen Lau um das Schicksal einer Wasserfrau im Blautopf bei Blaubeuren, aber auch der Rest der Geschichte ist sehr lesenswert und vergnüglich. Unverzichtbar bei der Lektüre ist allerdings das schon von Mörike selbst begonnene und von den modernen Herausgebern noch ergänzte Glossar, denn der Autor gibt der Sprache seiner Erzählung durch teils regionale, teils schon zu seiner Zeit überholte und archaische Begriffe ein ganz besonderes Gepräge. Selbst mit halbwegs soliden Kenntnissen früherer Sprachstufen des Deutschen stößt man hier deshalb garantiert auf einige Wörter, die einem noch nie begegnet sind, doch das ist, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, so amüsant wie die Geschichte selbst.
Denn so naiv sie in den Grundzügen anmuten mag, gewisse Untiefen fehlen eigentlich nie. Manchmal wird es verblüffend frech und doppeldeutig (so etwa im Traum der schönen Lau von der Wirtin und dem Abt), dann wiederum wird die Illusion eines fernen ursprünglichen Mittelalters gekonnt torpediert, wenn eine Figur im Suff lamentieren darf, dass ja leider das Schießpulver noch nicht erfunden ist. Der sich daraus ergebene Scherz wird sogar zu einer ganzen kleinen Nebenhandlung ausgestaltet. Trotz aller Ironisierung kommt auch immer wieder Mörikes spürbare Freude an poetischen Stadt- und Landschaftsschilderungen und an Sagen- und Märchenhaftem aller Art zum Tragen. Sympathisch ist, dass, anders als im typischen Märchen, auch die Antagonisten relativ gut davonkommen. Die Vergeltung, die sie für ihre Taten erleiden müssen, übersteigt ein gewisses Maß nicht und lässt die Aussicht auf Besserung.
Natürlich gäbe es noch mancherlei zu Entstehungszeittypischem und -untypischem, den entworfenen Geschlechterrollenbildern, literarischen Techniken und Mörikes immer wieder durchschimmernder gelehrter Bildung zu bemerken, aber ein literaturwissenschaftlicher Aufsatz soll diese Rezension ja nicht werden, sondern nur eine Leseempfehlung. Denn wer Lust auf ein liebenswertes Beispiel von Fantasy avant la lettre hat, sollte bedenkenlos zu diesem Klassiker greifen und sich ein paar unterhaltsame Lektürestunden gönnen.
Eduard Mörike: Das Stuttgarter Hutzelmännlein. Stuttgart, Reclam, 1970 (RUB 4755), 112 Seiten.
ISBN: 9783150047552