Der Codex Manesse

Codex Manesse, Manessische Liederhandschrift, Große Heidelberger Liederhandschrift – das mittelalterliche Buch, mit dem sich Anna Kathrin Bleulers Einführung Der Codex Manesse befasst, hat viele Namen und zählt zu den berühmtesten Handschriften des deutschsprachigen Raums. Aller Wahrscheinlichkeit nach um 1300 in Zürich im Auftrag des Ratsherrn Rüdiger II. Manesse  unter Beteiligung des Dichters Johannes Hadlaub entstanden, vereint der Codex Manesse nach Autoren geordnet eine Fülle von Minneliedern und Sangspruchdichtung des 12. und 13. Jahrhunderts.
Neben dem Wunsch nach der Herstellung eines nicht zuletzt dank seines reichen Bilderschmucks als Prunkobjekt tauglichen Buchs scheint hinter der Sammlung auch der nostalgische Wunsch, die (vermeintlich) gute alte Zeit der staufischen Epoche zu bewahren, gestanden zu haben. Wie genau der Entstehungsprozess verlief und was an der Handschrift noch heute über Schreiber, Konzeptänderungen und den Umgang mit Literatur in einer mittelalterlichen Stadt allgemein zu erkennen ist, schildert Bleuler detailreich und gut verständlich.
Daneben lässt sich  Der Codex Manesse jedoch auch als kleiner Ausflug in die Welt des Minnesangs lesen, wird doch diese Form der Dichtung von den Anfängen beim Kürenberger über bekannte Dichter wie Walther von der Vogelweide und Neidhart bis hin zu Konrad von Würzburg ausführlich vorgestellt. Den besprochenen Strophen im mittelhochdeutschen Original ist dabei immer eine neuhochdeutsche Übersetzung beigefügt, so dass sich auch für Laien keinerlei sprachliche Verständnisprobleme ergeben.
Dagegen wird die Sangspruchdichtung – wohl auch der Dominanz der Minnelyrik im Codex Manesse geschuldet – gegen Ende des Buchs nur sehr knapp an einem einzigen Beispiel aus dem Werk des Tannhäusers abgehandelt. Aufgrund der Heterogenität der Texte, die unter dem Begriff „Sangspruch“ subsumiert werden, wäre hier eine repräsentative Auswahl allerdings auch wesentlich schwieriger gewesen als im Fall des Minnesangs.
Apropos Auswahl: Obwohl Bleuler größtenteils die konventionelle Forschungsmeinung zu den Dichtern und Werken wiedergibt, macht sie deutlich, dass viele Einstufungen und vor allem der Kanon mehr oder minder klassischer Minnelieder in hohem Maße auf Wertungen des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Die Überhöhung der Stauferzeit zu einer Art Idealzustand des Rittertums und der höfischen Kultur hat ihre Wurzeln zwar schon im Spätmittelalter (s.o.), erreichte aber in den nicht selten romantisierenden Vorstellungen der frühen Germanistik eine neue Qualität und prägt unsere Sicht auf die mittelalterliche Literatur – wenn auch oft nur unbewusst – bis heute.
Dank des Aufzeigens dieser Perspektive ist das kurze Bändchen nicht nur ein guter Einstieg in die Beschäftigung mit Texten und Buchproduktion des Mittelalters, sondern auch eine Hinführung zur kritischen Auseinandersetzung mit der germanistischen Mediävistik als Fach und deshalb allen daran Interessierten nur zu empfehlen.

Anna Kathrin Bleuler: Der Codex Manesse. Geschichte, Bilder, Lieder. München, C. H. Beck, 2018, 128 Seiten.
ISBN: 9783406721342


Genre: Kunst und Kultur