Obwohl die Billunger in Ottonen- und Salierzeit zu den wichtigsten Akteuren im norddeutschen Raum zählten, ist die Familie, die über mehrere Generationen hinweg die sächsischen Herzöge stellte, in allgemeinem Bewusstsein und Forschung heute weniger präsent als viele ihrer Zeitgenossen. Abhilfe schaffen kann diesbezüglich der Tagungsband Die Billunger. Die sächsische Herzogsfamilie im Blick aktueller Forschung, der unter drei Themenschwerpunkten den billungischen Herzögen und ihrem vielfältigen Umfeld nachspürt.
Im ersten Oberkapitel geht es um Dynastie und Herzogtum der Billunger. Den Auftakt bildet Matthias Bechers gewohnt lesenswerter Aufsatz Schwierige Anfänge. Hermann Billungs Aufstieg zum sächsischen Herzog mit der Schilderung einer so nicht unbedingt von Anfang an erwartbaren, aber aus der spezifischen historischen Situation durchaus erklärlichen Karriere, die den Grundstein für die langjährige Dominanz der Billunger in Norddeutschland legte.
Der Titel des folgenden Beitrags – … aut hostem occisum irridere vel certe propinquum deflere. Die Billunger als Verwandte – täuscht ein wenig darüber hinweg, dass es Gerhard Lubich nicht primär darum geht, das Handeln der Billunger ihren Verwandten gegenüber zu schildern, sondern zu hinterfragen, ob in der Forschung angenommene oder auch in Schriftquellen erwähnte bzw. angedeutete Verwandtschaftsbeziehungen überhaupt bestanden. Lubich lässt hier viel weniger als gesichert gelten als die meisten anderen am Band Beteiligten (und man kann sich fragen, ob seine Skepsis nicht hier und da auch über das Ziel hinausschießt).
Quellenkritik ist auch ein zentrales Anliegen von Hans-Werner Goetz in Die ‚Billunger‘ in der zeitgenössischen Historiographie, durchaus einschließlich der Untersuchung (und übersichtlichen grafischen Darstellung) der jeweils in erzählenden Geschichtsquellen erwähnten Verwandtschaftsverhältnisse, aber vor allem ganz generell bezogen auf die jeweiligen Interessen und Wertungen verschiedener Chronisten. In einem Fachtext ungewohnt, aber eingängig und einprägsam ist eine Grafik (S. 175), die mittels Emojis veranschaulicht, wie gut oder schlecht das Verhältnis unterschiedlicher Billunger zueinander war.
Florian Hartmann stellt in Die Erben der Billunger und der Kampf um die sächsische Herzogswürde einleuchtend dar, wie in den Jahrzehnten nach dem Tod des letzten Billungerherzogs Magnus 1106 die Welfen und Askanier – die beiden Familien, in die Magnus‘ Töchter Wulfhild und Eilika eingeheiratet hatten – Nachfolgeansprüche durchzusetzen versuchten und wie sehr sich der Welfe Heinrich der Löwe, dem am Ende Erfolg beschieden war, in seiner Rolle als sächsischer Herzog auch zum Billunger stilisierte. Deutlich wird, dass von einem vermeintlichen „Aussterben“ der Billunger durch das Fehlen männlicher Erben so nicht die Rede sein kann und man das Weitertragen der Tradition einer Familie durch ihre weiblichen Mitglieder ernster nehmen muss, als es in der bisherigen Forschung oft geschehen ist.
Der zweite große Abschnitt des Buchs ist dem Agieren in geistlichen und weltlichen Sphären gewidmet. Nathalie Kruppa betrachtet in diesem Kontext Die Klöster und Stifte der Billunger, denn auch wenn man geneigt ist, hier vor allem an das Kloster St. Michael auf dem Lüneburger Kalkberg zu denken, gab es verschiedene geistliche Institutionen, zu denen die Billunger Verbindungen hatten und die vor allem für ihre Memoria eine entscheidende Rolle spielten.
Obwohl also die geistliche Komponente aus dem Leben der Billunger nicht wegzudenken ist, kommt Tobias P. Jansen in Blut ist dicker als Weihwasser zu dem Schluss, dass ihre Macht trotz allem primär auf weltlichen Säulen ruhte. Denn auch wenn einige Mitglieder der Familie es zu Bischofsämtern brachten, war diese Option nie die zentrale für den Erhalt des Einflusses der Billunger.
So passt es gut, dass Robert Gramsch-Stehfest in seinem unmittelbar folgenden Beitrag Die Billunger und das Netzwerk des sächsischen Hochadels im 11. und 12. Jahrhundert untersucht und mit Mitteln der Netzwerkanalyse vor allem die Bedeutung von Heiratsverbindungen der sächsischen Adelshäuser untereinander auslotet. Deutlich wird hier wie schon bei Florian Hartmann im Kapitel zuvor, dass die Rolle der weiblichen Angehörigen solcher Familien für die Stiftung von Kontinuität nicht zu unterschätzen ist.
Den Blick über Sachsen hinaus richtet Jürgen Dendorfer in seinem Aufsatz Die Billunger im spätsalischen Reich und macht durch einen hochinteressanten Vergleich mit den Herzogtümern Bayern und Schwaben plausibel, dass die Billunger anders als ihre süddeutschen Amtsgenossen auch deshalb die Herzogswürde über Generationen hinweg in der Familie halten konnten, weil sie unabhängig von diesem vom König verliehenen Titel über Besitz und Einfluss in der Region verfügten und damit ihre Macht auf unterschiedliche Art zu legitimieren vermochten.
Vor diesem Hintergrund ist es kein Wunder, dass auch Verschwörung und Rebellion als Optionen billungischer Politik durchaus infrage kamen, wie Gerd Althoff in seiner gelungenen Untersuchung nachzuweisen vermag. Getragen von großem Selbst- und Standesbewusstsein sahen sich nicht alle Billunger immer in der Pflicht, loyal zum jeweiligen König bzw. Kaiser zu stehen, sondern fühlten sich durchaus im Recht, in Opposition zu ihm zu treten, wenn es opportun erschien.
Stand bisher meist im weitesten Sinne „Innenpolitisches“ im Zentrum des Bandes, richtet der dritte und abschließende Teil das Augenmerk auf das Agieren in den Kontaktzonen am Rande des Reiches, denn die Einflusssphäre der Billunger grenzte natürlich an die der Dänen und Slawen. Gleich der erste Beitrag vermag zu überzeugen: Carolin Triebler stellte die Frage, wie Der Billunger Ordulf im Spiegel der Quellen erscheint, und arbeitet glaubhaft heraus, dass die Darstellung Adams von Bremen, Ordulf sei ein im Vergleich zu seinen Vorgängern unbedeutender und im Kampf gegen Slawenaufstände erfolgloser Herzog gewesen, einer Korrektur bedarf, zu der erzählende altnordische Quellen ebenso beitragen können wie ein Blick in Urkunden, in denen Ordulf und sein Sohn Magnus erscheinen.
Eine wertvolle Ergänzung zu den historisch ausgerichteten Texten des Bandes bietet der nun folgende mit archäologischer Schwerpunktsetzung, Das archäologische Erbe der Billunger. Rainer-Maria Weiss präsentiert darin – unterstützt von reichem Bildmaterial, u. a. Karten und Rekonstruktionsdarstellungen – die Ergebnisse der seit 2014 erfolgten Ausgrabung der Neuen Burg in Hamburg als Beispiel für eine billungische Festung und Residenz.
Nördlich der Elbe liegt auch der Schwerpunkt von Oliver Auges Beitrag Die Billunger in der nordelbischen Geschichte und schleswig-holsteinischen Geschichtsforschung. Hier wird ein Überblick über die Sicht der historischen Forschung vom 16. Jahrhundert an auf die Rolle der Billunger im heutigen Schleswig-Holstein geboten.
Dasselbe Gebiet interessiert Günther Bock in Burgen, Kontakträume, Herrschaften, Erbgänge, dem letzten enthaltenen Aufsatz, der einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt. Einerseits arbeitet Bock schlüssig heraus, dass eine Fokussierung der Forschung auf einzelne ethnische Gruppen den Blick dafür verstellen kann, wie vernetzt die herrschenden Schichten von Sachsen, Slawen und Skandinaviern auch grenzüberschreitend waren, andererseits werden einige eher spekulative Annahmen vorgetragen, als wären sie belegbare Fakten (ob sich z. B. der Schatz von Farve eindeutig dem Slawenfürsten Ratibor zuordnen lässt, wie hier suggeriert wird, ist nicht geklärt).
Insgesamt bietet der von Nicole Laka auch äußerlich sehr ansprechend gestaltete Band eine breite Fülle von aktuellen Forschungsansätzen, die mit manch einem alten Vorurteil über die Billunger aufräumen, und bildet eine rundum lohnende Lektüre, die aufgrund des für ein Fachbuch erfreulich erschwinglichen Preises auch für Mittelalterfans und Neugierige außerhalb der Wissenschaft zugänglich ist.
Carolin Triebler, Florian Hartmann, Rainer-Maria Weiss (Hrsg.): Die Billunger. Die sächsische Herzogsfamilie im Blick aktueller Forschung. Hamburg, Archäologisches Museum Hamburg und Stadtmuseum Harburg, 2023 (Veröffentlichung des Archäologischen Museums Hamburg und Stadtmuseums Harburg Nr. 118), 512 Seiten.
ISBN: 978-3-931429-43-0