Norddeutschland 1799. Gewöhnlich bekommt es der Amtsschreiber Heinrich Eckhoff im ruhigen Harsefeld nicht mit schlimmeren Vergehen als Schlägereien oder versetzten Grenzsteinen zu tun. Doch als er an einem Frühlingstag eine völlig entkräftete und orientierungslos herumirrende Fremde findet, die nicht einmal ihren eigenen Namen kennt, ist das der Auftakt zu einer Reihe verstörender Ereignisse. Nicht genug damit, dass die junge Frau, kaum dass Heinrich sie bei seiner Vermieterin, der Witwe Gaethke, untergebracht hat, von der abergläubischen Dorfbevölkerung verdächtigt wird, eine gefährliche Untote zu sein: Bald kommt es sogar zu einem Attentat auf sie, und als kurz darauf, wohl vom selben Täter, ein Mord an einer Dorfbewohnerin begangen wird, sind Heinrich und Gaethkes älteste Tochter Leonore entschlossener denn je, mehr über ihre rätselhafte Mitbewohnerin herauszufinden. Aber wie, wenn die Arme selbst so gut wie nichts über sich weiß und jemand, dem daran gelegen ist, das auch so bleiben zu lassen, ihren Verbündeten immer einen Schritt voraus ist? Dann geschieht ein zweiter Mord, und das ist noch nicht das Ende der verhängnisvollen Geschehnisse, die über Harsefeld hereinbrechen sollen …
Martin Schemms neuester historischer Roman Die geheimnisvolle Fremde ist von dem bis heute ungeklärten und daher auch immer wieder zu Spekulationen anregenden Fall des Kaspar Hauser inspiriert. Anders als bei ihm lassen sich im Buch – so viel sei vorweggenommen, ohne schon etwas Entscheidendes zu verraten – die Hintergründe des unerwarteten Auftauchens der mysteriösen Frau jedoch aufklären, und den Ich-Erzähler Heinrich und die ihm schon nach kurzer Zeit alles andere als gleichgültige Leonore, genannt Lore, dabei zu begleiten, bleibt von Anfang bis Ende spannend.
Trotz der Krimielemente ist die Geschichte dabei nicht im Stil eines typischen Whodunnit zum Miträtseln aufgebaut. Obwohl der Roman geradlinig erzählt und flott zu lesen ist, kann man die Auflösung nicht vorausahnen, schon gar nicht in allen Einzelheiten, nicht zuletzt deshalb, weil es sich bei dem hauptsächlichen „Detektiv“ Heinrich um einen Zugezogenen handelt, der noch dazu als etwas Bessergestellter nicht am Tratsch der Dorfbevölkerung teilnimmt und deshalb von einem Vorfall, der sich Jahre zuvor in Harsefeld herumgesprochen haben muss und der entscheidend ist, um das Schicksal der Fremden zu verstehen, schlicht zunächst nichts wissen kann.
Ohnehin ist die gelungene Schilderung des Lebens auf dem Lande kurz vor Beginn des 19. Jahrhunderts ein Hauptreiz des Romans. Ob nun die Dorfgesellschaft vom Gesinde über die Bauern und Honoratioren bis hin zum niederen Adel, die Landschaft mit ihren Wäldern, Mooren und Feldern oder der Zusammenhalt angesichts einer jähen Katastrophe, alles wird lebendig heraufbeschworen, und die Vergangenheit ist immer präsent, ob nun in der Rückbesinnung auf den Dreißigjährigen Krieg als Zeit unfassbarer Gewalt oder in den allgegenwärtigen prähistorischen Hügelgräbern (die nicht nur für Atmosphäre sorgen, sondern auch schon einmal einen ganz praktischen Zweck als Deckung bei einer riskanten Verfolgungsjagd erfüllen dürfen).
Deutlich wird immer wieder auch, dass trotz des gewissen Maßes an Bildung, das im Zuge der Aufklärung auch für die Ärmeren zugänglich geworden ist (zum Bibellesen reicht es immerhin, auch unter schwierigsten Verhältnissen), Aberglaube und Ängste vor dem Übernatürlichen noch keineswegs verschwunden sind. Hier bedauert man manchmal fast, dass Martin Schemm sich diesmal – anders als etwa bei seinen früheren Büchern Die Feuertore und Tod im Mariendom – auf einen rein realistischen historischen Roman beschränkt hat, denn einige Details, wie etwa der angebliche heidnische Fluch, der auf dem Ort ruhen soll, hätten sich bei seinem Talent für Phantastisches sicher großartig ausarbeiten lassen, wenn sie mehr als nur Gerüchte wären.
Aber Schemm beweist, dass sein Sinn für das Unheimliche auch dann für packende Lektüre sorgt, wenn die Ursachen des Bösen, das in eine vordergründig friedliche Welt eindringt, ganz irdisch sind. Sympathisch ist wie immer, dass der Autor, obwohl es durchaus einige dramatische und bedrohliche Situationen gibt, keine typischen Kämpferhelden, sondern einen Schreiber und eine ehemalige Hauslehrerin ermitteln lässt und – neben dem klassischen literarischen Motiv eines besonderen angeborenen Merkmals als Erkennungszeichen – vor allem gute Recherchefähigkeiten zum Erfolg führen. Die sanfte und dank humorvoller Frotzeleien auch sehr amüsant zu lesende Liebesgeschichte zwischen Heinrich und Lore bildet dabei einen angenehmen Kontrapunkt zu den entsetzlichen Ereignissen, die beide zusammenfinden lassen. Wer Spaß an historischen Romanen allgemein oder speziell an Regionalgeschichte hat, wird daher auch viel Freude an der Geheimnisvollen Fremden haben.
Martin Schemm: Die geheimnisvolle Fremde. Bremen, Edition Falkenberg, 2025, 228 Seiten.
ISBN: 978-3-95494-239-8