Die Griechen

Zugegeben: Der Untertitel Und die Erfindung der Kultur, mit dem sich die Taschenbuchausgabe von Edith Halls Die Griechen (auch schon als Die alten Griechen. Eine Erfolgsgeschichte in zehn Auftritten erschienen) schmückt, ist etwas hoch gegriffen. Als Erfinder der Kultur schlechthin stellt die britische Altphilologin die Griechen nicht dar, sehr wohl aber als die Zivilisation, deren Errungenschaften und Besonderheiten in vielerlei Hinsicht bis heute für die westliche Welt prägend sind. Mit entsprechendem Verve erzählt sie die Geistesgeschichte der griechischen Antike und ihrer Literatur, Wissenschaft und Philosophie.

Hall sieht dabei vor allem zehn Eigenheiten als prägend für die Griechen an: Liebe zur Seefahrt, Misstrauen gegenüber Autorität, Individualismus, Wissbegier, Offenheit, Humor, Wettkampfgeist, Bewunderung für außergewöhnliche Begabungen, Redegewandtheit und Vergnügungssucht. Statt diese Punkte epochenübergreifend abzuhandeln, greift Hall zu dem reizvollen Mittel, chronologisch geordnet jeweils eine bestimmte Phase der altgriechischen Geschichte zu nutzen, um daran exemplarisch eine ihrer Zuschreibungen zu belegen. In vielen Fällen passt das recht gut – so etwa bei der Analyse der Bedeutung der Seefahrt für die mykenische Kultur -, und manchmal sorgt der Ansatz sogar für ungewohnte und gerade dadurch erhellende Perspektiven (z.B. im Falle der Spartaner, die hier nicht allein als Krieger in den Blick genommen werden, sondern mit ihrem sprichwörtlichen lakonischen Humor glänzen dürfen). Je weiter das Buch jedoch fortschreitet, desto gewollter wirkt die Zuordnung, auch weil die als prägend propagierte Eigenschaft gar nicht immer im Zentrum des jeweiligen Kapitels steht. So ist der eigentlich Alexander dem Großen und seinen Makedonen zugeordnete Aspekt des Wettstreits im entsprechenden Abschnitt eher unterrepräsentiert – bedeutender sind hier Überlegungen zum Einfluss der in der makedonischen Elite besonders beliebten Mysterienkulte auf Alexanders Selbstwahrnehmung.

Bei aller Anerkennung der Leistungen der Griechen und trotz ihrer unverhohlen eingestandenen Sympathie für einzelne Persönlichkeiten,  so z.B. den spätantiken Redner Libanios, verschweigt Hall auch die Schattenseiten ihrer Kultur nicht: Die weitverbreitete Frauenfeindlichkeit und die allgemein akzeptierte Sklaverei finden ebenso immer wieder Erwähnung wie kriegerische Brutalität und Machtgier, so dass die stets spürbare Begeisterung der Autorin für ihren Forschungsgegenstand nicht in kritiklose Glorifizierung abgleitet. Dennoch sorgen Halls zugänglicher Stil und ihre oft sehr persönliche Herangehensweise dafür, dass die Lektüre vor allem Spaß und Lust auf mehr macht. Ein paar ereignisgeschichtliche Vorkenntnisse mitzubringen, schadet beim Verständnis allerdings nicht, denn abgesehen von einzelnen Kapiteln (wie etwa dem schon erwähnten über Alexander den Großen) referiert Hall die historischen Abläufe selten ausführlich, sondern greift eher punktuell besonders bedeutsame Geschehnisse heraus.

Die Übersetzung von Norbert Juraschitz liest sich insgesamt flüssig, aber an einzelnen Stellen zweifelt man doch, ob bei der Übertragung ins Deutsche ganz die richtige Formulierung getroffen worden ist (so stößt man eher verwundert auf die „Zeugnisse der parfümierten Ölindustrie“ [S. 75] in mykenischer Zeit – ist hier vielleicht die Herstellung von Duftölen gemeint?). Leider sind zudem einige Flüchtigkeitsfehler stehen geblieben, von denen sich nicht sagen lässt, ob sie schon im englischen Original vorhanden waren oder erst im Zuge der Übersetzung aufgetreten sind. So sollen z.B. die Goldbleche von Pyrgi  „um das Jahr 500 n. Chr.“ (S. 34) entstanden sein, was nicht stimmen kann (als terminus ante quem wird in der Forschung normalerweise die Plünderung von Pyrgi durch Dionysius von Syrakus im Jahre 384 v. Chr. genannt).

Trotz dieser Kritikpunkte bieten Die Griechen denjenigen, die sich noch nicht tiefergehend mit der griechischen Antike befasst haben, einen blendend lesbaren Einstieg in eine reizvolle Vergangenheit, während alle anderen hier vergnüglich eigene Kenntnisse auffrischen und Halls Wertungen mit eigenen Einschätzungen abgleichen können.

Edith Hall: Die Griechen und die Erfindung der Kultur. 2. Aufl. München, Pantheon, 2018, 416 Seiten.
ISBN: 978-3570553817


Genre: Geschichte, Kunst und Kultur