Die Sachsen führt Babette Ludowicis kurzes Buch zwar im Titel, doch über die frühmittelalterliche Bevölkerung vor allem im norddeutschen Raum, die von Karl dem Großen unterworfen und dem fränkischen Herrschaftsbereich einverleibt wurde, dann aber mit dem Familienverband der Liudolfinger im 10. und beginnenden 11. Jahrhundert die ottonischen Kaiser stellte, erfährt man dabei noch am wenigsten. Der Titel eines Unterkapitels, Von Sachsen keine Spur, ist sehr ernst zu nehmen, denn vor allem geht es Ludowici darum, mit überkommenen Forschungsansichten aufzuräumen – so gründlich, dass am Ende wenig historische Realität dahinter greifbar bleibt.
Den zuerst in der Spätantike sicher belegten Namen Saxones, aus dem sich später das Wort Sachsen entwickelte, sieht Ludowici zunächst nicht auf eine spezifische gens bezogen, sondern eher als Sammelbegriff für recht heterogene Gruppen, der sich wohl aus deren Tätigkeit als Plünderer und Seeräuber ergab, im Ursprung also ähnlich wie später Wikinger. Erst in oder nach der Konfrontation der Bewohner Norddeutschlands mit Karl dem Großen habe sich dort insbesondere unter den Eliten überhaupt eine Eigenidentifizierung als Sachsen entwickelt, gefördert durch Werke wie die Sachsengeschichte Widukinds von Corvey, der dabei viele Fremdzuschreibungen übernommen habe. In diesem Zusammenhang weist Ludowici auch auf die Notwendigkeit hin, Quellenkritik zu üben und nach „dem historischen Standort und den Darstellungsabsichten“ (S. 66) der jeweils über die Sachsen Berichtenden zu fragen.
Wendet man dieses Prinzip auf Ludowicis eigenes Buch an, wird schnell deutlich, dass es vor allem von dem Willen getragen ist, sich entschieden gegen die oft völkisch und nationalistisch geprägten Forschungsansätze im 19. Jahrhundert und der ersten Hälfte des 20. abzugrenzen und deutlich zu machen, dass eine Glorifizierung und Romantisierung frühmittelalterlicher gentes und ein Gründen eigener Identität auf fälschlich angenommenen Kontinuitäten unangebracht sind und meist böse enden.
Das ist ein legitimes und absolut verständliches Bedürfnis, das sich allerdings hier in manchen Fällen dann doch in einem Messen mit zweierlei Maß niederschlägt, wenn Ludowici es z. B. für angebracht hält, ein Grab als thüringisch oder bestimmte Trachtbestandteile und Waffen als typisch fränkisch anzusprechen, aber bei den Sachsen bzw. Saxones vor einer leichtfertigen Gleichsetzung von archäologischen (Be-)Funden mit aus den Schriftquellen bekannten Gruppen ausdrücklich warnt, und das mit einer Unbedingtheit, die fast den Eindruck hinterlässt, dass Sachsen bzw. Saxones für sie eine Phantombezeichnung ohne große Anknüpfungspunkte in der Wirklichkeit ist. Hier fragt man sich dann doch, ob die Autorin nicht in dem Wunsch, Fehlvorstellungen von einem uralten sächsischen „Stamm“ zu widerlegen, etwas über das Ziel hinausschießt und den Titelgebern ihres Werks einen geringeren Realitätsgehalt zugesteht als deren Zeitgenossen.
Dennoch ist das Buch immer dann noch am besten, wenn Ludowici sich mit konkreten archäologischen Erkenntnissen befasst und z. B. Indizien dafür zusammenträgt, dass es in den wohl als sächsisch besiedelt anzusprechenden Regionen auch schon vor den Eroberungszügen Karls des Großen Christen und Parteigänger der fränkischen Könige gab, so dass das einheitliche Bild paganer Sachsen in geschlossener Opposition gegen die Franken auf den Prüfstand gestellt werden muss.
Bei den sehr gerafften ereignisgeschichtlichen Darstellungen dagegen ist manches in fast schon missverständlicher Weise verkürzt, gerade im abschließenden 6. Kapitel, das die allmähliche Verlagerung von „Sachsen“ als geographische Bezeichnung in das heute unter dem Namen bekannte Gebiet um Dresden behandelt, und die historische Argumentation ist bisweilen abenteuerlich. So spricht für Ludowici gegen die von ihr entschieden verneinte These von einer territorialen Expansion der Sachsen auf dem Kontinent, dass diese, soweit wir wissen, keine Könige hatten und deshalb doch gewiss nicht „ohne die Initiative einer zentralen Führungsfigur zielgerichtet Eroberungen vorangetrieben und Herrschaft an sich gerissen“ (S. 65) haben könnten. Gerade die von ihr im anderen Kontext bemühten Wikinger zeigen aber – wenn auch einige Jahrhunderte später – recht gut, dass solche Bestrebungen keiner zentralen Herrschergestalt über eine gesamte kulturelle Gruppe bedürfen.
Gewöhnungsbedürftig ist phasenweise der Sprachstil, nicht nur aufgrund Ludowicis schon in ihrem Beitrag zum Sammelband Germanen feststellbarer Tendenz, gern im Perfekt statt im Präteritum zu formulieren, und einiger seltsamer Formen bei lateinischen Begriffen (ob z. B. tatsächlich ein mir grammatikalisch nicht ganz erklärlicher princeps milites – so mehrfach auf S. 54 – statt des üblichen princeps militiae oder princeps militum als Ausdruck für „Heerführer, Oberbefehlshaber“ möglich ist, entzieht sich meiner Kenntnis, ich halte es aber für unwahrscheinlich). Auffällig sind vielmehr manche bewusst moderne Ausdrücke (so liest man etwa vom „Military-Look“, S. 80, germanischer Kämpfer in römischen Diensten).
Mag man zu einem solchen Bemühen um umgangssprachliche Publikumsnähe stehen, wie man will, niedrigschwellig zugänglich ist die über einen separaten Karten- und Abbildungsteil verfügende Darstellung immerhin. Ob es allerdings sinnvoll ist, ganz ohne Vorwissen an das als Einführung gedachte Buch heranzugehen und somit auch Ludowicis Deutungen nicht mit eigenen Kenntnissen und Einschätzungen abgleichen zu können, sei einmal dahingestellt.
Babette Ludowici: Die Sachsen. München, C. H. Beck, 2022, 128 Seiten.
ISBN: 978-3-406-79076-8