Liebe ist ein Thema in zahlreichen Märchen aus aller Welt. Eine Hochzeit gehört fast schon zu den unverzichtbaren Komponenten eines glücklichen Endes, und oft genug ist der Wunsch, Partner oder Partnerin zu retten oder überhaupt erst einmal von sich zu überzeugen, das Hauptmotiv für Held oder Heldin, ins Abenteuer auszuziehen. Doch es gibt auch Abweichungen vom klassischen Schema, die einen beim Lesen überrascht oder amüsiert zurücklassen. Eine abwechslungsreiche Auswahl aus der reichen Fülle von Liebesmärchen hat Clara Paul in Die schönsten Liebesmärchen der Welt zusammengestellt.
Einige Texte sind dabei garantiert nicht nur Märchenfans vertraut: Rapunzel oder das französische Märchen Die Schöne und das Tier begegnen einem vermutlich oft schon in der Kindheit. Doch viele der hier versammelten Märchen richten sich eindeutig eher an ein erwachsenes Lesepublikum, und das nicht nur, weil es manchmal durchaus derb erotisch zugehen kann (wie in der dänischen Geschichte Der Wahrsager). Vielmehr werden auch die Schattenseiten der Liebe verhandelt, wenn bespielsweise in dem italienischen Märchen Meine Frau, die Sirene ein eifersüchtiger Seemann seine untreue Frau zu ertränken versucht und dann bei einem Wiedersehen unter Wasser wesentlich mehr Glück hat, als er verdient. Ohnehin überdauert die Liebe im Märchen so manches, ob nun Ehekrisen, Anschläge von Neidern und Feinden, schieres Pech oder sogar den Tod.
Nicht immer ist es jedoch die Zweierbeziehung allein, die im Mittelpunkt steht. Mehrfach wird z.B. auch die Frage nach der Geschlechtsidentität gestellt. Während es im georgischen Märchen Wie das Mädchen zum Mann wurde die Tochter eines Wesirs gezielt darauf anlegt, in einen Mann verwandelt zu werden, ist es in der Geschichte Der Zauberbrunnen aus Afghanistan für einen Prinzen ein eher unschönes Erlebnis, sich unversehens als Frau wiederzufinden.
Zeitlich ist das abgedeckte Spektrum größer als bei den meisten Märchenbüchern, die sich oft auf neuzeitliche Volks- und Kunstmärchen konzentrieren: Mit Apuleius (Amor und Psyche) und Nizami (Die Geschichte von den Heimsuchungen der Liebenden) sind auch Antike und Mittelalter vertreten. Geographisch ist der Rahmen ebenfalls relativ weit gesteckt, von Europa über den nahen und mittleren Osten bis hin nach Japan und Tahiti. Fast schon überrepräsentiert wirkt dabei Italien, und ein Blick ins Quellenverzeichnis lässt ahnen, woran das liegen könnte: Sämtliche Märchen sind älteren Sammlungen entnommen, und besonders häufig ist eine mit Märchennacherzählungen von Italo Calvino als Fundgrube genutzt worden.
Was dem Buch leider fehlt, ist ein Vor- oder Nachwort, das die Auswahlkriterien offenlegen und vielleicht auch eine Einordnung der kulturübergreifend zu beobachtenden Motive, aber auch etwaiger Unterschiede vornehmen könnte. So bieten Die schönsten Liebesmärchen der Welt zwar unterhaltsame Lektüre, aber wer sich etwas tiefergehend mit ihnen befassen möchte, erhält keinerlei Hilfestellung.
Clara Paul (Hrsg.): Die schönsten Liebesmärchen der Welt. Berlin, Insel Verlag, 2017, 240 Seiten.
ISBN: 9783458363002