Die Forschung zu Orten – insbesondere Erinnerungsorten, die zu Kristallisationspunkten bestimmter kultureller Narrative werden – hat in den letzten Jahren Konjunktur. Kein Wunder also, dass diesbezüglich inzwischen auch über die Antike viel geschrieben worden ist und neben dem Wohlbekannten allmählich Ungewöhnliches in den Fokus gerät. Schon im Titel verspricht das neue Buch des Althistorikers Martin Zimmermann eine Reise zu den Seltsamsten Orten der Antike. Wer daraufhin auf eine Art Kuriositätenkabinett des Altertums hofft, sollte sich allerdings bewusst sein, dass die Ankündigung nur mit zwei Einschränkungen eingelöst wird.
Zum einen sind viele der locker nach zehn Themengebieten (wie etwa Geisterstädte oder Jenseits des Alltags) geordneten Orte nicht aus antiker Sicht, sondern nur für uns Heutige seltsam, da sich Wertesystem und kulturelle Grundannahmen in den vergangenen Jahrtausenden beträchtlich verändert haben (so mag uns die Sitte, nach einer Schlacht aus Rüstungsteilen der Besiegten ein Tropaion als vergängliches Siegesmal zu errichten, sonderbar bis geschmacklos erscheinen, doch in manchen Phasen der altgriechischen Geschichte war sie gängig). Zum anderen sind mehrere Orte vertreten, die selbst heute nicht allzu seltsam wirken, sondern nur durch irgendeine Besonderheit etwa des archäologischen Erhaltungszustands aus der Masse vergleichbarer Stätten herausragen. Beispielsweise dürfte das Römerkastell Vindolanda für die Zeitgenossen ein mehr oder minder normaler Ort gewesen sein und wäre auch für uns nicht über Gebühr bemerkenswert, wenn dort nicht zufällig mit den sogenannten Vindolanda Tablets zahlreiche Briefe aus dem 1. bis 2. Jahrhundert n. Chr. gefunden worden wären.
Wer sich allerdings von dieser sehr weitgefassten Definition von Seltsamkeit nicht abschrecken lässt, wird mit einem vielfältigen Streifzug durch die Antike belohnt, der einerseits immer wieder ihre Alterität erfahrbar macht, andererseits aber sympathischerweise auch von viel Mitgefühl für die Opfer von Gewalt und Grausamkeit geprägt ist (ganz gleich, ob es nun um Kriegsverlierer, Sklaven oder die zahllosen bei römischen Volksbelustigungen niedergemetzelten Tiere geht). Die sehr menschliche und zugängliche Perspektive, die daraus spricht, zeigt sich auch in dem immer wieder auf die heutigen Verhältnisse an den geschilderten Orten gerichteten Blick und der auch hier deutlichen Kritik an Kriegsgräueln oder auch nur allgemeiner Rücksichtslosigkeit. Und grausige Aspekte haben viele der geschilderten Plätze, von der Stätte eines mesopotamischen Heilungskults, in dessen Rahmen reihenweise Hunde gequält und getötet wurden, über die Gemonische Treppe in Rom, auf der man die Leichen Hingerichteter schändete, bis hin zum keltischen Oppidum Entremont, in dem stolz die Schädel toter Feinde präsentiert wurden.
Durchgängig düster und schockierend ist das Buch gleichwohl nicht, im Gegenteil: Über weite Strecken ist der Unterhaltungswert hoch, besonders in den Passagen, in denen wirklich Bizarres geschildert wird. So lernt man ein Spukhaus in Athen kennen, in dem kettenrasselnd ein Gespenst umgeht, bis ein Philosoph sich beherzt des Geists annimmt, oder erfährt vom unwahrscheinlichen Aufstieg des Städtchens Abonuteichos, in dem ein Betrüger mithilfe einer Schlange einen fragwürdigen, aber populären Orakelkult zu etablieren wusste. Hier kann man über einiges schmunzeln, und die humorvollen Illustrationen von Lukas Wossagk tragen dazu bei, diesen Aspekt des Buchs zu betonen. Natürlich kommen auch legendäre Orte wie Troja, Thule oder die Hängenden Gärten von Babylon zu ihrem Recht (wobei Zimmermann nicht mit Kritik an Forscherkollegen spart, die meinen, Sagenumwobenes bis Fiktives geographisch sicher lokalisieren zu können).
Sprachlich lesen sich Die seltsamsten Orte der Antike flüssig und schwungvoll, denn der Stil bleibt von aller wissenschaftlichen Trockenheit weit entfernt. Allerdings hätte man dem Buch in dieser Hinsicht an einigen Stellen ein gründlicheres Lektorat gewünscht (so werden „der“ und „das Verdienst“ sowie „der“ und „das Schild“ verwechselt). Auch in anderer Hinsicht hat es sich der Verlag ein bisschen leicht gemacht: So gibt es zwar durchaus ein Register, aber das hat nicht den Weg ins Buch gefunden, sondern steht mit dem Literaturverzeichnis nur im Internet zum Download bereit. Auch abgesehen von der zusätzlichen Mühe, die Interessierten damit zugemutet wird, zeugt das nicht gerade von einer Planung für die Ewigkeit.
Alles in allem präsentiert sich das Werk jedoch trotz aller kleinen Schönheitsfehler und ungeachtet der Tatsache, dass es nicht ganz hält, was sein Titel verspricht, als spannender und oft überraschender Spaziergang durch die Kulturgeschichte des Altertums, der Antikenfans durchaus zu empfehlen ist.
Martin Zimmermann: Die seltsamsten Orte der Antike. Gespensterhäuser, Hängende Gärten und die Enden der Welt. München, C. H. Beck, 2018, 336 Seiten.
ISBN: 9783406727047