Der Hintergrund des Buchs Die Wikinger: Entdecker und Eroberer ist eigentlich ein trauriger: Ursprünglich plante der Archäologe Jörn Staecker ein Überblickswerk über die Wikingerzeit, starb aber, bevor er das Projekt vollenden konnte. Gleichsam als Ersatz entstanden ist nun eine Sammlung von verschiedenen Expertinnen und Experten verfasster Texte zu zentralen Aspekten der Wikingerzeit, wobei die einzelnen Beteiligten unterschiedlich an ihre Aufgabe herangehen, für ein allgemeines Publikum zu schreiben.
Das erste Oberkapitel, Die Wikinger aus archäologischer Sicht, liest sich daher auch recht heterogen. Die Beiträge von Caroline Arcini zu Rückschlüssen aus Skelettfunden und von Tobias Schade zu ländlichen Siedlungen informieren sachlich und nüchtern über ihre jeweiligen Themen. Dagegen ist bei den Anteilen des Herausgebers Matthias Toplak, insbesondere bei dem den Bestattungssitten gewidmeten Abschnitt, eine nicht immer von quellenkritischer Distanz geprägte Tendenz zur Verlebendigung zu beobachten.
Im folgenden Teil Heimat Nordland sind Aufsätze zu einigen Ursprungsgebieten der Wikinger versammelt. Tobias Schade umreißt das wikingerzeitliche Dänemark, während mit Haithabu (Volker Hilberg, Sven Kalmring) und Birka (Lena Holmquist, Sven Kalmring) zwei wichtige skandinavische Handelsplätze eine ausführlichere Vorstellung erfahren. Astrid Tummuscheit und Claus von Carnap-Bornheim steuern spannende neue Erkenntnisse über den Grenzwall Danewerk bei, dessen Ursprünge teilweise schon in der Völkerwanderungszeit zu suchen sind. Frans-Arne Stylegar schildert die Beziehungen zwischen den Wikingern und ihren Nachbarn im arktischen Norden Skandinaviens und Russlands.
Unter der Überschrift Mächtige Frauen und versklavte Männer nimmt das dritte Kapitel Geschlechterrollen und soziale Hierarchien in den Blick. Die Beiträge von Leszek Gardeła und Matthias Toplak einerseits sowie Clare Downham andererseits befassen sich mit der in letzter Zeit verstärkt in der Forschung diskutierten Frage nach etwaigen kriegerischen Aktivitäten von Frauen, wobei Gardeła und Toplak die archäologische Seite abdecken, während Downham anhand von Schriftquellen die Handlungsspielräume von weiblichen Angehörigen der Herrschaftselite auslotet. Breiten Raum nimmt dabei jeweils die Diskussion des Grabs BJ 581 von Birka ein, in dem nach neuesten Erkenntnissen eine Frau mit reichen Waffenbeigaben bestattet wurde. Der Beitrag von Gardeła und Toplak wirkt dabei teilweise arg bemüht in dem Bestreben, andere Erklärungen für die Waffenbeigaben zu finden als eben die, dass die Grabherrin eine Kriegerin gewesen sein könnte. Ob das nun mehr über das Geschlechterrollenverständnis der Wikinger oder über das leider oft immer noch sehr beschränkte heutige aussagt, sei einmal dahingestellt. Ein Kontrastprogramm zu diesem Fokus auf die Oberschicht und kriegerische Ideale bietet Stefan Brinks Beitrag, der die Sklaverei in der Wikingerzeit untersucht und dabei nuanciert Unterschiede zwischen der Situation in den Heimatgebieten der Wikinger und dem Sklavenhandel im Zuge von Reisen herausarbeitet.
Verkehrsmittel der Wahl bei diesen Fahrten war natürlich vor allem das Schiff, so dass es nicht verwundert, dass das vierte Oberkapitel Handel und Expansion durch einen Beitrag von Rudolf Simek über die Schiffe der Wikinger eingeleitet wird, bevor Handelsplätze (Hauke Jöns) und ganze Handelsnetzwerke (Cristoph Kilger, Matthias Toplak) im Mittelpunkt stehen. Birgitta Hårdh zeigt anschaulich die überragende Rolle auf, die das zunächst nur für seinen Materialwert und als Rohstoff geschätzte Silber im Wirtschaftssystem der Wikingerzeit spielte, während Ralf Wiechmann das Entstehen eines eigenen skandinavischen Münzwesens (und der damit wohl unvermeidlich einhergehenden Fälschertätigkeit) schildert.
Ein Großteil des erwähnten Silbers erreichte die Wikinger zunächst aus der islamischen Welt über Osteuropa, und folgerichtig ist dem Weg in den Osten ein eigenes Oberkapitel gewidmet. Leszek Gardeła konzentriert sich hier auf die Kontakte von Wikingern und Westslawen im Ostseeraum. Matthias Toplak hingegen skizziert die Entstehung der Kiewer Rus. In diesem Kontext zu verorten ist die von Veronika Murasheva untersuchte Wallburg von Supruty (im heutigen Russland), die offenbar von Wikingern, Slawen und Steppennomaden gemeinsam genutzt, dann aber unter Beteiligung weiterer Wikinger völlig verwüstet wurde. Die Existenz von Schmelztiegeln der Kulturen, die sich am Beispiel von Supruty schon andeutet, beleuchtet Charlotte Hedenstierna-Jonson in ihren Ausführungen zu Migration und Identität. Matthias Toplak beschäftigt sich mit dem Verhältnis der Wikinger zum Islam und findet im Zuge dessen doch noch zu der kritischen Würdigung von Ibn Fadlans bekanntem Reisebericht, die man bei der begeisterten Nacherzählung von Teilen der Quelle im ersten Oberkapitel vermisst. Heinrich Härke und Irina A. Arzhantseva stellen Vermutungen über die Rolle der Seidenstraße für die Wikinger an. Leider fehlt als Gegengewicht zu dieser ausführlichen Erkundung des Ostens ein entsprechendes Kapitel zum Westen, der – sei es durch Plünderungen, sei es durch Reise- und Siedlungsaktivitäten im atlantischen Raum (Island, Grönland) – ebenfalls zum Aktionsradius der Wikinger gehörte.
Abschließend wird dafür im Abschnitt Religion und Mythologie der Versuch unternommen, die geistige Welt der Wikingerzeit zu rekonstruieren. Gerade hinsichtlich der paganen Glaubensvorstellungen ist das aufgrund der Quellenlage alles andere als einfach, wie Rudolf Simek, Tobias Schade und Matthias Toplak herausarbeiten, die sich im Anschluss daran auch mit der Christianisierung der Wikinger befassen. Stefanie Gropper führt knapp, aber informativ in die altnordische Literatur ein, während Arnulf Krause die Runenschrift beleuchtet. Einen der faszinierendsten Beiträge des gesamten Buchs legt Michaela Helmbrecht vor, die nicht nur die Rolle von Tierornamentik und Menschendarstellungen in der wikingerzeitlichen Kunst erläutert, sondern auch die Frage nach der Bedeutung von Bildmedien in einer größtenteils von Mündlichkeit geprägten Kultur aufwirft. Sigmund Oehrl hebt die Verbreitung christlicher und synkretistischer Elementen in der Kunst der späten Wikingerzeit hervor.
So groß die Schwankungen in Stil und Inhalt teilweise auch sind, der Gesamteindruck, den Die Wikinger hinterlassen, ist positiv. Der durch einen üppigen Farbbildteil ergänzte Band macht aktuelle Forschungsergebnisse einer breiten Öffentlichkeit gut lesbar zugänglich. Ein Nachteil gegenüber einer Monographie aus einem Guss sei allerdings nicht verschwiegen: Bei einer Lektüre des kompletten Buchs kommt es oft zu Wiederholungen, da verschiedene Beiträge dieselben Fakten referieren oder schon erwähnte Quellen noch einmal neu vorstellen. Ein einzelner Autor hätte hier vermutlich stärker straffen können.
Dennoch gehören Die Wikinger ohne Zweifel zu den zugänglichsten und vielfältigsten Überblicksdarstellungen, die es derzeit über die Epoche gibt, und seien daher allen Interessierten empfohlen.
Jörn Staecker, Matthias Toplak (Hrsg.): Die Wikinger. Entdecker und Eroberer. Berlin, Propyläen (Ullstein), 2019, 480 Seiten.
ISBN: 978-3549076484