Mit Religion und Mythologie der Germanen holt Rudolf Simek weit aus, um einen Überblick über die Entwicklung religiöser Vorstellungen der verschiedensten germanischen Gruppen von den ersten greifbaren Anfängen bis zur Christianisierung zu geben. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf dem skandinavischen Kulturraum, der archäologisch und quellenmäßig gut erschlossen ist. Dient als Einstieg noch der schlaglichtartige Blick auf die Rezeption durch uns Heutige, geht es gleich darauf weit zurück bis ins Neolithikum, um ein Panorama der longue durée bestimmter Ideen und Kulthandlungen zu entwerfen. Von Bedeutung ist dabei ist dabei beispielsweise die kontinuierliche religiöse Nutzung mancher Orte über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende hinweg, auch wenn die konkreten Glaubensinhalte der frühesten Zeiten natürlich nicht überliefert sind.
Das ändert sich selbstverständlich, sobald Schriftquellen – seien sie nun inschriftlicher oder literarischer Art – ins Spiel kommen. Etwas Vorwissen schadet bei der Lektüre der ihnen gewidmeten Passagen sicher nicht, denn Simek hinterfragt viele scheinbare Gewissheiten. Insbesondere den Quellenwert der landläufig oft mit der nordischen Mythologie assoziierten isländischen Texte, die erst im christlichen Hochmittelalter entstanden, und dabei vor allem der Prosa-Edda des Snorri Sturluson setzt er nicht hoch an. Hier ist für ihn primär ein gelehrt mythografisches Interesse, wenn nicht gar eine von christlicher und antiker Literatur beeinflusste Fabulierfreude am Werk. So kommt es zu der sonderbaren Situation, dass sich über die frühe germanische Religiosität (etwa im Rahmen des Matronenkults im römischen Reich) teilweise stichhaltigere Aussagen treffen lassen als über die der uns historisch um einiges näheren Wikingerzeit. Neben der demnach nur bruchstückhaft zu rekonstruierenden Götterwelt und den Vorstellungen über Jenseits, Seele und Schöpfung rückt Simek deshalb immer wieder auch die Aspekte germanischer Religion in den Vordergrund, die durch archäologische Funde ganz konkret zu erkunden sind, etwa Opferhandlungen und Bestattungssitten.
Als Konstante in allen behandelten Epochen erweist sich letzten Endes die Tatsache, dass es so etwas wie ein einheitliches germanisches Heidentum zu keinem Zeitpunkt gab: Regionale und individuelle Unterschiede werden nicht nur an nicht miteinander in Deckung zu bringenden Mythenversionen deutlich, sondern auch z.B. daran, dass unterschiedliche Formen des Grabbrauchs (wie Brand- und Körperbestattung) in denselben Gegenden durchaus gleichzeitig praktiziert werden konnten. Im Fehlen einer klaren und einheitlichen Glaubensgrundlage sieht Simek auch einen wichtigen Faktor für das letztendliche Unterliegen der paganen Vorstellungen gegen das Christentum, das zwar weniger Raum für Variationen, dafür aber dank seiner schriftlichen Grundlage Verbindlichkeit und eine straffere Organisation zu bieten hatte.
Trotz aller unvermeidlichen Fragezeichen und Leerstellen ergibt sich so ein durchaus eindrucksvolles Gesamtbild. Was man dem Band allerdings gewünscht hätte, ist ein gründlicheres Lektorat, denn es sind viele Widersprüche stehengeblieben, die sich nicht aus dem disparaten Material an sich, sondern aus Simeks eigenen Interpretationen ergeben. So widerspricht er etwa bei der Behandlung der sogenannten Goldgubber – wohl kultisch genutzter Goldplättchen mit reliefartigen Darstellungen u.a. von unbekleideten Tänzern – der Deutung, hier könne der Gott Freyr gezeigt sein, da „man kaum den Gott selbst als nackt und tanzend dargestellt haben“ werde (S. 77); eine kleine vollplastische Figur, die einen bis auf die Kopfbedeckung nackten Mann zeigt, deutet er aber selbst als Freyr (S. 145 f.) und sieht auch nackte Pfahlidole als Götterdarstellungen (S. 103 f.), so dass sich beim besten Willen nicht erschließt, warum ein Gott zwar als Statue nackt gezeigt werden darf, auf einem Goldplättchen aber nicht. Auch Simeks Einschätzungen zum Bild, das man sich geistig von den Göttern machte, sind nicht in Deckung zu bringen: Ist nun „Odin (…) überhaupt der einzige wikingerzeitliche Gott, der als Reiter vorgestellt wird“ (S. 142), oder wird auch Thor nach Ausweis der mit ihm assoziierten Kenningar (dichterischen Umschreibungen) „offenbar als Reiter“ betrachtet (S. 136)? Noch deutlicher ist die absolute Gegensätzlichkeit der Aussagen bei der Meeresgottheit Ran: Ist sie zunächst eine „ganz zweifellos schon recht alte Göttin“ (S. 155), verkündet Simek wenig später genauso überzeugt: „Es dürfte sich also bei Ran nur um eine recht späte, im Heidentum auch kaum recht verbreitete Personifizierung der sinistren Seite des Meeres handeln, (…) und somit dürfte die Vorstellung einer Göttin des Reiches der Ertrunkenen mit diesem Namen recht jung sein“ (S. 212). Hier weiß man nun überhaupt nicht mehr, welcher Wertung des Autors man trauen soll.
Demensprechend zwiespältig muss auch das Gesamturteil ausfallen. Als quellenerschließendes Handbuch, das aufzeigt, welche Texte und archäologischen Funde Hinweise auf Glaubenswelten und -praktiken bieten, ist Religion und Mythologie der Germanen unbestreitbar von hohem Wert. Bei der Interpretation hingegen sollte man Simeks Äußerungen sorgfältig hinterfragen, um nicht am Ende Deutungen, die sogar den Autor selbst schon nach ein paar Seiten nicht mehr überzeugen, für gesicherte Erkenntnisse zu halten.
Rudolf Simek: Religion und Mythologie der Germanen. 2., bibliographisch aktualisierte und überarbeitete Aufl. Darmstadt, Theiss (WBG), 2014, 336 Seiten.
ISBN: 978-3806229387